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Wartezimmererkenntnis

Neulich sass ich in einem Wartezimmer.

Während ich so vor mich hin wartete, gingen mir allerlei Fragen und Gedanken durch den Kopf, zB., weshalb man eigentlich nie einen Termin bekommt auf die Zeit, zu welcher der Termingeber tatsächlich Zeit für einen hat, sondern immer mindestens eine Viertelstunde früher. Aber vermutlich liegt das daran, dass die Einrichtung eines Wartezimmers dann eine sinnlose Investition wäre.

 

Vor allem würde dann auch niemand all die alten Zeitschriften lesen, die mehr oder weniger zerfleddert im Wartezimmer herumliegen.

 

Im Wartezimmer, von dem ich hier berichte, erstreckte sich das Spektrum der ausrangierten Druckerzeugnisse von Klatschheften, über Fachzeitschriften für Fischer, einigen Ausgaben des “Schweizer Soldaten”, bis zu populärwissenschaftlichen Heften der dubioseren Art. Und eins der Letzteren griff ich mir dann auch, da ich weder an Promigeschichten, Ködern, noch am Militär besonders interessiert bin, aber trotzdem IRGENDWAS lesen musste, um mich ein bisschen von den anderen Wartenden abzulenken, besser gesagt von den Geräuschen, die sie machten.

Da war nämlich ein alter Mann, der sein Gebiss in eine andere (bequemere?) Position schob, eine junge Frau mit einem MP3-Player, die sich irgendwelchen Techno-Schrott in den Gehörgang pustete, und ein Mann mittleren Alters, der rhythmisch mit dem Fuss auf den Boden klopfte. Allerdings in einem anderen Rhythmus als die Technoliebhaberin.

 

Ansonsten war der Raum sehr still, bis auf das Ticken der Uhr an der Wand, so dass diese Geräusche in meinen Ohren sehr laut und aufdringlich klangen – ihr kennt das sicher, das sind so Sachen, die einem rasend machen können.

Wie oft schon habe ich im Zug den Platz gewechselt, weil mein Gegenüber einen Apfel kaute? Oder neulich war da eine Frau, die mindestens sechs Plastiktüten dabei hatte, die sie umpackte, wobei sie den Inhalt der einen in die andere packte und die dann in eine andere steckte und eine dritte dazu usw. – das Geraschel schien ewig zu dauern und dann, als sie endlich fertig war, kam ihr etwas in den Sinn, das sie jetzt unbedingt brauchte und in der einen Plastiktüte ganz zu unterst steckte – es handelte sich dabei um eine kleine Plastiktüte mit Bonbons, jedes in ein raschelndes Papierchen verpackt. Nachdem sie das dritte ausgewickelt und LAUT gelutscht hatte, durfte ich endlich aussteigen. Zum Glück bevor ich die Beherrschung verlor und irgendetwas Bizarres und Verbotenes mit den Bonbons der Frau gemacht hätte.

 

Ich blätterte also in der Zeitschrift und stiess auf einen Artikel, in dem eine psychische Störung namens Hyperakusis und Phonophobie beschrieben wurde.

Menschen, die darunter leiden, haben eine gesteigerte Sensibilität für leise Geräusche, wie zB. Rascheln, Essgeräusche bei anderen Personen usw. – ooookey….

 

Das ist jetzt aber doch keine Störung, das haben doch alle, oder nicht?

 

Das geht doch allen so, dass sie durch solche Geräusche genervt werden, sie sind vielleicht einfach ein bisschen cooler und toleranter in dieser Hinsicht?

Aber der Artikel sagte etwas ganz anderes, der stellte mich dar, als sei ich irgendwie besonders seltsam und so – ich nahm es persönlich und fand es gemein.

 

Der Mann mit dem Gebiss gab einen lauten Schmatzer von sich.

Die anderen Anwesenden verzogen keine Miene. Klar, die Technolady hörte vermutlich eh nichts und der fussklopfende Mann machte ja selber auch genug Lärm.

Trotzdem gab mir die Sache nun doch etwas zu denken.

 

Später erzählte ich dann meinem Sohn davon und er hob nur eine Augenbraue und meinte: “Ja, DAS ist aber doch keine neue Erkenntnis, oder?”

Ich fragte nicht, ob er die Existenz einer solchen Störung meinte, oder die Tatsache, dass ich davon betroffen sei und zog es vor, die Sache nicht weiter zu vertiefen.

Ich könnte ja deshalb mal zum Psychiater gehen.

 

Aber ich fürchte mich davor, was ich in seinem Wartezimmer NOCH über mich herausfinden könnte.


Sollbruchstelle

Es kommt manchmal vor, dass man am Morgen erwacht und eine Melodie im Ohr hat, oder ein Bild ist vom letzten Traum hinter den Augen hängen geblieben, oder ein Geschmack liegt noch schwer vom Schlaf auf der Zunge – na gut, das ist dann nicht so angenehm, aber der Vollständigkeit halber musste ich es trotzdem erwähnen.

In etwas selteneren Fällen wache ich mit einem Wort auf. Es steht in dicken Lettern an der Grenze zwischen Traum und Tag, ein einziges Wort. Ich öffne die Augen und da ploppt es auf, wie diese lästigen Pop-ups im Internet und unwillkürlich tastet die Hand im Bett nach der Maus und der Blick gleitet nach rechts oben um dieses Kreuzchen zu finden, mit dem ich das Ding wieder los werde. Geht nicht. Keine Maus, kein Kreuzchen, das Wort bleibt. Bleibt, bis ich es lese, auch wenn es kein Wort ist, mit dem ich mich um diese Zeit befassen möchte. Sollbruchstelle.

 

Wie bitte? Ich blinzle zwei mal kräftig und das Wort ploppt weg. Na also. Jetzt einfach nicht mehr daran denken. Ich meine, was bitte soll denn dieses dämliche Wort? Dieses Wort existiert in meinem Wortschatz überhaupt nicht. Dieses Sollbruchstellending… Mist. Jetzt ist es doch passiert, das Wort bleibt in meinem Bewusstsein kleben. Und ich kenne das bereits, je weniger ich daran denken möchte, desto mehr MUSS ich daran denken. Beim Kaffeekochen, beim Zähneputzen, ich nehme die Sollbruchstelle mit auf meinen Spaziergang und als ich mich danach an meinen Arbeitstisch setze, sehe ich sie sogar materialisiert an der Klinge meines Papiermessers.

 

Da gebe ich mich geschlagen und lasse das Nachdenken darüber zu, vielleicht bringt die ungeteilte Aufmerksamkeit für dieses Wort es ja besser zum Verschwinden, als meine Ignoranz.

 

Also, zuerst mal eine Definition. Die finde ich bei Wiki und sie lautet:

 

Eine Sollbruchstelle ist ein durch konstruktive oder mechanische bzw. physikalische Maßnahmen oder Auslegungen vorgesehenes Konstruktionselement. Im Schadens- oder Überlastfall wird dieses Element gezielt und vorhersagbar versagen, um hierdurch den möglichen Schaden in einem Gesamtsystem klein zu halten oder eine besondere Funktion zu erreichen.

 

Ok. Reicht das schon?

Plopp! Sollbruchstelle!

Na gut, dann eben nicht.

Wer denkt sich überhaupt so etwas aus? Ich meine, wenn ich etwas konstruiere, dann möchte ich doch, dass es heil bleibt, oder nicht? Dann mache ich es so, dass es hält und nicht gleich überlastet wird und unvorhersagbar versagt, so dass ich eine Sicherung einbauen muss, damit es vorhersagbar versagt. Wenn ich so wenig überzeugt von meinen eigenen Fähigkeiten bin, dass ich das Versagen vorhersage und statt es ordentlich zu machen, etwas vorhersagbar Versagendes brauche, damit mir das ganze Ding nicht um die Ohren fliegt, sollte ich vielleicht lieber etwas anderes machen, wofür ich mehr Talent habe.

 

So. Kann ich jetzt BITTE an etwas anderes denken?

Plopp! Sollbruchstelle!

Man kann das Ganze natürlich auch weniger materialistisch oder mechanisch sehen.

 

Hat Treue eine Sollbruchstelle? Hat ein Versprechen eine Sollbruchstelle? Hat ein Herz eine Sollbruchstelle? Hat alles, was gebrochen werden kann, eine Sollbruchstelle? Und wo ist die?

Die Bestrebung, den Schaden im Überlastungsfall möglichst gering zu halten, wäre ja auch in diesen Fällen durchaus sinnvoll. “Schatz, du hast mir zwar das Herz gebrochen, aber da es an der Sollbruchstelle entzwei gegangen ist, lässt sich das leicht reparieren!”

Oder: “Du bist sooo gemein, dass du dein Versprechen gebrochen hast!” “Ach sei doch nicht so, das war doch nur die Sollbruchstelle!” “Tatsächlich? Na, dann geht es ja noch…”

 

Schliesslich mache ich noch einen kurzen Abstecher zu Flora und Fauna. Ich denke an Eidechsenschwänze, die dank Sollbruchstelle Leben retten können und an Bruchweiden, die sogar Sollbruchstellen benutzen, um sich zu vermehren.

 

Über diesen versöhnlichen Gedanken ist es schliesslich Nachmittag geworden und ich mache mich auf den Weg zu meiner ausserhäuslichen Arbeit. Die Sollbruchstellen lassen mich in Ruhe, nun, da ich ihnen den nötigen Tribut gezollt habe. Nur kurz ploppt das Wort noch einmal im Zug auf, als mein Blick auf den kleinen Hammer fällt, mit dem man im Notfall die Fensterscheibe einschlägt. Aber ich nehme es mit grosser innerer Ruhe.

 

Im Bus setzt sich eine ältere Dame neben mich. Sie starrt mich von der Seite her an, ohne mich zu sehen. Sie wippt leicht vor und zurück auf ihrem Sitz und ihre Lippen formen unhörbare Worte. Dann blickt sie nach vorne, ich spüre, wie ihr ganzer Körper verkrampft neben mir. Und ganz plötzlich beginnt sie, einen lauten Wortschwall herauszustossen, sie gestikuliert und redet auf jemanden ein, den nur sie selbst sehen kann. Die Leute im Bus drehen sich um und schütteln den Kopf, einige schauen betreten weg. Dann ist es so schnell vorbei, wie es gekommen ist. Die Frau verstummt, entspannt sich, seufzt erleichtert. Sie wendet sich mir zu und lächelt mich an.

Sollbruchstelle, denke ich und lächle zurück.


Teebeutelweisheit

Gestern Abend trank ich, wie meistens, noch einen Tee – genauer gesagt einen Yogi-Tea, wie er sich etwas grossspurig nennt, aber ich mag ihn, weil er Ingwer drin hat und danach bin ich vielleicht ein kleines bisschen süchtig.

Tobias sass mir gegenüber und trank marokkanische Minze – ja, wir sind sehr international, wenn es um unsere Teevorlieben geht. Doch plötzlich griff er über den Tisch, studierte kurz die Etikette an meinem Teebeutel, schaute mir tief in die Augen und sagte: „Du musst die Lüge kennen, um die Ehrlichkeit zu schätzen.“

 

Das fand ich nun als isolierte Aussage ziemlich seltsam und entsprechend fragend war dann wohl mein Gesichtsausdruck, denn er veranlasste meinen manchmal etwas wortkargen Sohn hinzuzufügen: „Steht da drauf.“ und auf meine Yogi-Tea Etikette zu zeigen.

Und tatsächlich stand dieser Satz dort. Und ich hatte ihn noch nie zuvor bemerkt, obwohl ich diesen Tee seit Jahren trinke! Man stelle sich das mal vor. Da bemüht sich jemand, solche Weisheiten auszudenken und auf Teebeuteletiketten zu schreiben, zur Erbauung einzelner und Steigerung des allgemeinen Weltweisheitsniveaus, und dann gibt es solch ignorante Individuen, die es in ihrer Verblendung nicht einmal bemerken und die vielleicht einzige Chance, sich mit ein bisschen Spiritualität anzustecken, jahrelang verpassen.

 

Ich war zutiefst erschüttert.

Und immer, wenn ich erschüttert bin, brauche ich einen Ingwertee.

Ich machte mir also noch einen und diesmal war meine Aufmerksamkeit so geschärft, dass ich sofort bemerkte, dass diesmal eine andere Weisheit auf der Etikette stand.

Und als ich dies nun las, spürte ich, wie die Weisheit in mich floss, denn ich hatte tatsächlich eine wichtige Erkenntnis. „Du muss wissen, wer du bist“ – ich war ein Mensch, der Tee aus einer Tasse trank, die gross und fett und mehrfach mit Coffee beschriftet war.

 

Und ich brauchte offensichtlich mehr Struktur und Klarheit in meiner verwirrten Existenz – oder wenigstens eine andere Tasse.

 

Also suchte und fand ich eine – das mit der Struktur und Klarheit würde ich später in Angriff nehmen. Jetzt hiess es zuerst, noch viel mehr Weisheit aufzunehmen.

 

Ich trank mich weiter durch: „Du hast zwei Feinde: Furcht und Zweifel – lass sie nicht rein.“, was ich nachvollziehbar fand und „Du musst etwas tun, um dein Leben zu verwirklichen.“, was mich etwas ratlos machte. Es folgte: „Du musst die Tiefen kennen, um die Höhen zu erkennen.“ und das baute mich dann wieder etwas auf und gab mir Kraft für: „du kannst nicht verstecken, was in dir ist.“ tatsächlich war inzwischen ziemlich viel Tee in mir und verstecken konnte und wollte ich das natürlich wirklich nicht. Und als dann die nächste Teebeutelweisheit riet: „Du musst dich von Zeit zu Zeit einmal zurückziehen.“ setzte ich diesen Rat sogleich in die Tat um – zum Glück war es bist dorthin nicht sehr weit.

Ich habe dann jedoch eingesehen, dass dies jetzt genügend Weisheiten für einen einzigen Abend gewesen waren. Den Rest werde ich in bekömmlicheren Dosen zu mir nehmen.

 

Das ist vielleicht nicht weise, aber ganz bestimmt klüger.


Bierernst

Neulich im Zug.

 

In meinem Abteil zwei junge Mormonen auf Mission, klar erkennbar an ihren grossen Namensschildern, die mit „Elder Soundso – Kirche Jesu Christi – die Heiligen der letzten Tage“ beschriftet waren.

 

Im Abteil gegenüber sassen zwei ältere Männer ohne Namensschild, aber trotzdem ebenso klar erkennbar als praktizierende Jünger des Abusus Alcoholis und hielten sich an je einer Bierdose fest.

 

Die Mormonen wirkten ein bisschen steif und warfen sich hie und da leise gesprochene Sätze zu, die ich nicht verstand, aber es war wohl ein ernstes Thema, denn kein Lächeln kräuselte die sehr glatten Gesichter der Beiden.

 

Die beiden Alkis dagegen sprachen laut und langsam und trotz schwerer Zungen sogar deutlich und amüsierten sich mit allerlei „weisst-du-noch-damals-als-sie-dich-aus-der-Bar-schmissen-und-du-wieder-reingingst-und-auf-den-Tresen-gekotzt-hast-war-das-ein-Gaudi“-Geschichten – wobei vor allem einer von ihnen redete, während der andere immer wieder eindöste. Er entschuldigte sich dann auch dafür: „Hey, sorry, tut mir echt leid, aber heute penne ich immer fast ein.“, worauf der andere grosszügig meinte: “Ist schon okay, macht doch nichts.“ und weiterquatschte.

 

Falls die jungen Missionare irgendwie beeindruckt waren von den beiden Absturzfiguren, liessen sie es sich auf alle Fälle nicht anmerken. Ausser vielleicht, dass sie ihr eigenes Satzpingpong einstellten und stur nicht in die Richtung der Älteren schauten, obwohl die eigentlich eine ziemlich unterhaltsame Show boten.

 

Der Müde hatte irgendwann keine Kraft mehr, seine Bierdose länger in der Hand zu halten und stellte sie auf das kleine Tischlein unterhalb des Fensters. Wenig später bremste der Zug etwas scharf ab und was dann geschah, war wirklich bemerkenswert.

 

Die Dose kam nämlich, dem Gesetz der Trägheit entsprechend, ins Rutschen und entgegen eines anderen Trägheitsgesetzes, das durch diese Bierrutschung vollständig ausser Kraft gesetzt wurde, griffen blitzschnell zwei Hände nach ihr, wobei die Eine ungeschickter Weise bereits eine Dose hielt, was Dosen und Hände mit Wucht zusammenprallen liess, was wiederum zur Folge hatte, dass zwei parallele Bierfontänen aus den oberen Dosenöffnungen hochschossen und sich im Fallen gleichmässig über Sitze, Bierretter, Zwischengang und Mormonenmissionare verteilten.

 

Ich muss sagen, die Mormonen bewiesen Haltung. Sie reagierten nämlich überhaupt nicht auf die plötzliche Bierdusche und ersparten somit ihren Verursachern eine Entschuldigung.

 

Diese reagierten zuerst auch nicht und schauten bloss fasziniert auf die zerdrückten Dosen in ihren Händen.

 

Dann meinte der nun wieder Müde: „Oooouuuww….“ und der Vielquassler: „Haha, jetzt wollten wir die Sauerei verhindern und es ist genau das Gegenteil dabei herausgekommen!“, worauf beide loslachten, als hätten sie gerade den Witz des Jahrhunderts gemacht.

 

Die beiden Mormonenjünglinge lachten nicht, aber mir schien es, als hebe sich ganz leicht Elder Soundsos linke Augenbraue. Vielleicht weil er die tiefe philosophische Wahrheit dieser Aussage ebenso ahnte wie ich.


Alle Vögel

Mein lieber Schwan, war das wieder ein komischer Kauz, den ich da neulich getroffen habe! Er kam zwar daher wie frisch aus dem Ei gepellt, schon fast ein eitler Gockel, hätte man denken können, aber je länger der Abend dauerte, desto mehr erwies er sich als veritabler Schluckspecht und mehr als einmal dachte ich, der Kerl habe echt eine Meise!

 

Rein äusserlich hätte man wirklich nichts geahnt – er hatte ziemlich dünne Storchenbeine, aber auch eine Habichtsnase, die auf einen festen Charakter schliessen lies. Und die Krähenfüsse im Gesicht waren ja nichts besonderes in dem Alter. Also, alles in allem wirkte er nicht wie ein besonders schräger Vogel.

 

Er erzählte etwa eine Stunde lang Witze – ein echter Spassvogel – aber dann wurde er plötzlich melancholisch und begann zu klagen, was für Rabeneltern er doch gehabt habe, die Mutter eine Schnapsdrossel und der Vater ein Pechvogel, der nur noch rumgehangen sei und seine Zeit mit blöden Gänsen, dummen Puten und lahmen Enten vertrödelt habe und immer mehr Federn lassen musste, bis ihn der Pleitegeier geholt habe.

 

Ich hörte ihm zu und bekam eine Gänsehaut aber er sprach immer mehr so, wie ihm der Schnabel gewachsen war. In seinem Kummer begann er mit dem verschütteten Bier auf der Theke rumzumalen wie ein Schmierfink und Dreckspatz und ich fragte mich, warum zum Kuckuck ich nicht schon längst einen Abflug gemacht hatte.

War ich ein solches Spatzenhirn, dass ich mir das antun musste oder steckte ich vielleicht einfach gerade den Kopf in den Sand?

 

Die Gelegenheit kam, als sich eine alte, ziemlich aufgeplusterte Spinatwachtel zu uns gesellte und ich mich elegant bei dem Unglücksraben verabschieden konnte – ich sei eben keine Nachteule und ginge eher mit den Hühnern schlafen, worauf er etwas von frühen, wurmstichigen Vögeln brabbelte und sich dann wieder der anderen zuwandte um ihr nach Papageienart die gleichen Geschichten zu zwitschern wie mir gerade eben noch.

 

Ich suchte das Weite und war froh, nach so viel Ornithologie in mein sicheres Nest zu kommen.


Zuhause

Wiedermal Nationalfeiertag und wie jedes Jahr am 1. August werden Reden gehalten und Artikel geschrieben, in denen definiert wird, was die Schweiz ist oder sein sollte. Vergangenheit und Zukunft werden gleichermassen beschworen und Selbstdefinitionen gesucht – und je nach persönlicher Vorliebe wird Abgrenzung oder Öffnung gefordert, werden Lösungen vorgestellt für die Probleme, die man zuvor als die drängendsten definiert hat und vor allem wird betont, dass alle, die diese Dinge anders sehen, tragisch irren und dieses Land letztendlich zerstören, wenn man sie lässt.

 

Und was soll man sich bei so viel Gerede und Geschreibe und Getöse auch noch selbst Gedanken zum Thema „Heimat“ machen – ich jedenfalls vermeide das in der Regel.

 

Heute jedoch gelang es mir nicht ganz, vielleicht, weil ich eine Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee machte und angesichts dieser Bilderbuchschweiz, die auf mich immer ein bisschen wirkt, als könne sie eigentlich gar nicht wahr sein, kam ich doch etwas ins Grübeln.

 

Ich fühlte mich sehr fremd, bewunderte und genoss zwar die Schönheit dieser Landschaft, aber gleichzeitig hatte diese Schweiz nichts mit meiner Lebenswirklichkeit zu tun, ich war hier genauso Touristin wie die Japanerin, die mir gegenüber sass.

 

Hinter mir sassen vier ältere Herren und jassten lautstark und als der eine dann die Punkte zusammenzählte, kam mir plötzlich Emil in den Sinn mit seiner Jassnummer, denn fast genau so hörte es sich an.

Und dann war da das Paar mittleren Alters, welches amerikanische Freunde zu Besuch hatte und ihnen die Schweiz zeigte – und es war in höchstem Masse unterhaltsam ihren klugen und lustigen Gesprächen ein bisschen zu lauschen.

Und dann gab es so viele andere, Laute und Ruhige, Nervige und Angenehme und je mehr ich ihnen zusah und zuhörte, desto mehr verschwand das Gefühl von Fremdheit, obwohl ich keinen von ihnen wirklich kannte.

 

Abends dann wieder daheim, machte ich meinen üblichen Spaziergang übers Bruderholz und die Felder, eine Umgebung die mir vollkommen vertraut ist.

Aber noch immer hing ich meinen Gedanken über Heimat nach – sind es nun die Menschen oder die Orte oder die Staaten und Grenzen oder Kulturen, die uns das Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit geben oder vom Gegenteil und ist nicht sowieso alles eine seltsame Mischung aus all diesen Zuständen und jeder, der etwas anderes behauptet macht sich der unzulässigen Vereinfachung der komplizierten Wirklichkeit schuldig?

 

Und als ich in meinem Kopf schon beinahe die Lösung dieser gewichtigen Fragen in Griffnähe hatte, kam mir eine junge Frau mit Kopftuch und einem Korb frisch geernteten Gemüse entgegen. Sie schenkte mir eine Tomate aus ihrem Garten und ein herzliches Lächeln.

 

Vielleicht ist es ja das. Ganz einfach. Jedenfalls für diesen Augenblick.


Frei bleiben!

Das Tramwartehäuschen kam mir sehr gelegen, denn meine Füsse waren schwer, die Beine müde und auch der Kopf hatte so seine eigenen Probleme.

 

Laut Anzeigetafel sollte es 8 Minuten dauern, bis mein Tram kommen würde - 8 Minuten sitzen und ausruhen fand ich eine schöne Idee.

 

Allerdings nur, bis ich sah, dass direkt über der Bank im Wartehäuschen ein grosses Wahlplakat hing. Fünf Köpfe darauf, fünf Männer mit einem verkrampften, leicht manisch wirkenden Grinsen. Beunruhigend irgendwie.

 

Darunter das Parteilogo und der Slogan: "Frei bleiben!"

 

Das brachte mich sofort ins Grübeln. Worauf bezog sich diese Aussage. War es eine blosse Feststellung, oder ein Wunsch, eine Bitte, ein Befehl?

 

Die Männer auf dem Plakat wirkten ehrlich gesagt nicht besonders frei in ihren weissen Kragen und engen Krawatten. Aber das Wort "bleiben" wies darauf hin, dass sie sich im Moment schon frei fühlten. Sonst würde das stehen: "Frei werden!" oder "Frei machen!"

 

Oder - und dieser Gedanke schien mir irgendwie schlüssiger - sie bezogen dieses "Frei bleiben" gar nicht auf sich selbst, sondern auf die Bank über der sie hingen. Oder sogar auf das ganze Tramhäuschen.

 

Ein freies Wartehäuschen ist ja etwas sehr schönes, weil man dann viel freien Platz hat um sich da unterzustellen oder hinzusetzen. Allerdings zerstört man selbst durch die eigennützige Benutzung des Häuschens dessen Freiheit, wenn auch nur temporär, aber trotzdem, das ist ein Konflikt, den man nicht unterschätzen sollte. Ist die Freiheit des Wartehäuschens etwa bloss da, um unsere egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen? Und was schwerer wiegt: Es gibt eine fundamentale Unvereinbarkeit zwischen der Freiheit des Wartehäuschens und unserer Nutzung des freien Wartehäuschens, beides zusammen kann nicht in ein und demselben Universum existieren, da es sich gegenseitig aufhebt. Deshalb kann man durchaus behaupten: Die Freiheit des Wartehäuschens ist unteilbar!

 

Und genau dies war die Botschaft der fünf Männer mit den gebleckten Gebissen. Das Tramhäuschen soll frei bleiben.

 

Und weil ich die Typen sowieso nicht im Genick haben wollte, blieb ich draussen stehen.


Tinte

Wie frustrierend!

 

Jetzt wollte ich im Zuge eines Nostalgieschubes meine alte Parker-Füllfeder reaktivieren um endlich wieder einmal etwas von Hand zu

schreiben – gepflegt von Hand, wie früher in meinen vor PC-Zeiten – und jetzt bekomme ich das blöde Ding nicht zum Laufen!

 

Natürlich war die Tinte eingetrocknet, nichts anderes war zu erwarten gewesen, aber ich habe die Feder gewaschen, getrocknet, eine neue Patrone eingesetzt, leicht die Patrone zusammengedrückt, um der Tinte bis zur Federspitze zu helfen. Und prompt einen fetten Tintenklecks auf's Papier platziert, an dem ein Miniatur-Rorschach seine Freude gehabt hätte.

 

Allerdings kam nach diesem einen Klecks dann nichts mehr, kein Punkt, kein Strich. Keinen einzigen Buchstaben konnte ich meiner einst so geschätzten und dann schmählich vergessenen Feder entlocken.

 

Ich redete ihr gut zu, dann schüttelte ich sie grob – aber sie wollte nicht einmal mehr klecksen, zeigte sich verstockt oder war schlicht wegen jahrelanger Vernachlässigung verschieden.

 

Ich erinnerte mich an zahlreiche moderne Variationen dieser Geschichte, nämlich die anstrengenden und unproduktiven Kämpfe mit den diversen Druckern, die ich besessen hatte, seit ich so ziemlich aufgehört habe, von Hand zu schreiben und stattdessen fast alles nur noch in Tastaturen hacke.

 

Erinnerungen an sauteure neue Druckerpatronen, Düsenputz- und Patronenausrichtprogramme, gefühlt stundenlange Studien unverständlicher Gebrauchsanweisungen/Supportforen, unzählige Bogen Papier, unbrauchbar bedruckt, da bei jeder Zeile die untere Hälfte fehlte. Rückblenden an Papierstaus und Meldungen über Nicht-erkennen-können des Druckers (blöder Lappi, der steht doch direkt vor dir und du erkennst ihn nicht?) durchwogten vielfarbig, wenn auch leicht verschmiert an den Rändern, mein Gedächtnis.

 

Und da schaue ich meine kleine, verstockte Feder an und denke, dass in mancher Hinsicht das Leben früher zwar nicht weniger frustrierend, aber trotzdem irgendwie einfacher gewesen ist.


Der Stein

Gestern machten Tobias und ich einen Ausflug ins Tessin, denn wir wollten unbedingt mal endlich durch den neuen Gotthardtunnel fahren mit dem Zug und die verkürzte Reisezeit dafür nutzen, mal wieder Lugano zu besuchen und vor allem den San Salvatore.

 

Gedacht getan – es war schön, wenn auch die Fernsicht wegen Wolken nicht ganz so weit, dafür schmeckte die Lasagne dort oben doppelt gut.

 

Nach dem Essen machten wir uns an den Abstieg. Hoch hatte uns das Funiculare gebracht, aber beim Abstieg wollten wir doch etwas Sportsgeist beweisen und zu Fuss gehen – es ist ja ein schöner Weg, wenn auch so steil, dass die Knie am Ende doch etwas schlotterig werden. Man muss gut aufpassen, dass man keinen Fehltritt macht, da liegt viel Schotter, der unter dem allzu hastigen Fuss ins Rutschen kommen kann.

 

Da war besonders dieser eine Stein.

 

Rund und unscheinbar, aber sehr, sehr böse.

 

Er hatte irgendwann den Entschluss gefasst, möglichst viele Leute zu Fall zu bringen. Er führte sogar eine kleine Strichliste, die er sich selber in den Leib ritzte – einen Strich für jeden Rutscher, einen Kreis für jeden Fall und ein Kreuz für jeden, der wegen ihm ganz abstürzte – bisher war dies jedoch noch nicht gelungen.

 

Aber er hatte Zeit, er arbeitete daran, er schlich sich unter achtlose Füsse und brachte seine Opfer aus dem Gleichgewicht – so auch Tobias und direkt anschliessend mich. Der selbe Stein. Nein, wir waren keine Kreis- und Kreuzkandidaten – zum Glück nicht – aber zum Strich reichte es bei uns beiden.

 

Aber warum war dieser Stein so? Was veranlasste ihn, nicht wie alle anderen einfach kalt und stoisch herumzuliegen und sich um seinen eigenen Kram zu kümmern? Warum dieser Hass gegen Leute?

 

War er geschlagen und im Übermass getreten worden? Wurde er einst beim Bau einer Mauer übergangen und als zu klein und unbedeutend weggekickt? Lebte er vor Äonen mal im tiefen Erdinneren und war dort unter höllisch schlechten Einfluss geraten?

 

Wir wissen es nicht.

 

Auch nicht, ob er irgendwie mit der Wurzel verbandelt war, die mich wenig später stolpern liess, indem sie unvermittelt nach meinem linken Fuss griff.

 

Ist es nicht manchmal ein Segen, NICHT alles zu wissen?


Kunstbetrachtung

Liebe Kunstinteressierte,

heute möchte ich ihnen ein Werk vorstellen, das in seiner Radikalität und Konsequenz seinesgleichen sucht.
Es vereint in sich sämtliche Komponenten, die von einer zeitgenössischen Plastik erwartet werden, enthält aber auch schon beinahe spielerische Elemente einer Installation, vor allem in seinen dynamischen Segmenten und darf in seiner Relevanz und seinem Bedeutungshorizont auf keinen Fall unterschätzt werden.

Der Künstler möchte anonym bleiben und schon dies bedeutet die explizite Abkehr vom herkömmlichen Kunstbetrieb, eine neue Bescheidenheit die gerade heute, da vermehrt der Künstler sich als Star vor sein Werk stellt, aufhorchen lässt.

Eine weitere Besonderheit betrifft die Tatsache, dass der Künstler als Schöpfer die Öffentlichkeit zwar scheut, seine Werke jedoch ausschliesslich im öffentlichen Raum platziert. Die Strasse wird so zur Galerie, die Stadt zum Museum und das Publikum sind zufällige Passanten, die so mit dem Werk konfrontiert werden, ohne Vorbereitung und Anleitung.

Die Persönlichkeit des Künstlers spiegelt sich in seinem Werk. Wie er selber wirkt seine Plastik nur auf den ersten Blick bescheiden, fügt sich in die Umgebung ein und doch besteht der Anspruch auf das unbedingte Sichtbarwerden, ja man könnte sogar sagen, die Intention auf eine Signalwirkung. Aus dieser Spannung lebt dieses Werk, das Zurückhaltende betont das Dringliche.

Der Sockel und der untere, stangenartige, radikal funktionell anmutende Teil der Plastik spielt mit den urbanen Formen des umgebenden Kontextes, die klaren vertikalen Linien und die betongraue Farbgebung machen keine Zugeständnisse an eine verhübschte Ästhetik. Und doch verweist das unerbittliche Streben nach oben auf die spirituelle Komponente, der Blick wird zwingend aufwärts gesogen, wo er mit dem komplexeren, verstörenderen Teil der Skulptur konfrontiert wird.
Dort expandiert das Werk zu einem kastenförmigen Element, an dem untereinander drei runde Gläser angebracht sind, die in wechselnden Zeitintervallen aufleuchten.

Die halbrunden Blenden, die sich über den Gläsern befinden, mögen die Assoziation aufgerissener Augen aufkommen lassen, doch die Zahl drei verweist explizit auf das geistig spirituelle und wendet sich von einem figurativen Deutungsmuster ab, betont noch durch die Wahl der Farben und das rhythmische Aufleuchten, das elegant den Begriff der Zeit einbringt.
Das Rot prangt zuoberst, dominiert somit das Ganze und betont das Dynamische, Aktive, ja vielleicht Aggressive, welches in der Interpretation des Künstlers das menschliche Wesen dominiert.
Darunter dann das Gelb, auch dies eine Farbe der Aktivität, aber doch weniger dominant.
Und dann überrascht uns der Künstler von neuem, wählt er doch als dritte und unterste Farbe nicht blau, womit er ja alle Primärfarben zitieren würde, nein, auch hier beschreitet er neue Wege und wählt grün, bringt damit die fast schon versöhnlich anmutende Komponente der Natürlichkeit in dieses sonst so technikdominierte Umfeld.

Im Winkel von 90 Grad zu diesem dreiteiligen Element findet sich ein weiteres, zweiteiliges. Hier sehen wir zwei weitere Gläser, allerdings verlässt der Künstler hier die reine Abstraktion und wagt sich an die Darstellung des menschlichen Körpers, wenn auch auf eine stark reduzierte Weise. Auf dem oberen Glas leuchtet uns eine rote Figur entgegen, die in erstarrter Haltung zu warten scheint. Im Wechsel dazu finden wir darunter eine grüne Figur, die dynamisch voranschreitet.

Auch hier spielt der Künstler wieder mit der Erwartungshaltung des Betrachters, der wohl eher die Dynamik bei der roten Figur erwarten würde und verweist ironisch auf die Spannung zwischen Bewegtheit und Stillstand in unserer heutigen mobilen Gesellschaft.

Ich könnte hier noch lange über dieses Werk referieren, aber ich möchte nun, wie der Künstler selber, bescheiden zurücktreten und ihnen die weitere Deutung überlassen. Nur so viel noch: Mit diesem Werk, das den bedeutungsvollen Titel „Ampel“ trägt, werden neue Massstäbe gesetzt, welche das Verständnis und die Rezension zeitgenössischer Plastik nachhaltiger prägen werden, als alles Bisherige.

Dr. Rainer Ernst Schwaflinger


Anruf bei der Wetter-Hotline

„Düüüt - - - düüüt - - - düüüt – „

„Wetter-Hotline…“

„Ja, hallo, hier spr…“

„für Auskünfte zur momentanen Wettersituation wählen Sie bitte Taste 1“

„ach, so ein Mist….“

„für die aktuelle Wetterprognose wählen Sie bitte Taste 2, für Auskünfte rund um das Thema Klimaerwärmung wählen Sie bitte Taste 3, für Informationen über eine allfällig bevorstehende neue Eiszeit wählen Sie Taste 4, für Beschwerden über das Wetter wählen sie Taste 5“

 

„Bieep“

 

„Herzlichen Dank, sobald ein Mitarbeiter frei ist, werden Sie durchgestellt, bis dahin hören Sie etwas leichte Musik. Falls Sie lieber keine leichte Musik hören möchten, wählen Sie bitte Taste 1.“

 

„Bieep“

 

„Sind sie wirklich sicher, dass Sie keine leichte und extrem entspannende Musik hören möchten, während Sie auf die Verbindung mit einem freien Mitarbeiter warten? Falls sie es sich doch anders überlegt haben wählen Sie Taste 1, sonst Taste 2“

 

„Bieep“

 

„Sie verzichten also auf leichte und wohltuende Entspannungsmusik und möchten die Zeit lieber in grüblerischer Stille verbringen. Dann tun Sie das eben. War ja auch nur ein wohlmeinendes Angebot.“

„------- *es folgt eine Viertelstunde grüblerischer Stille*-------“

 

„Wetter-Hotline-Beschwerdestelle, mein Name ist Jochen Graupel, was kann ich für Sie tun?“

„Boh, Mann, haben Sie mich jetzt erschreckt!“

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ja, also, ich hätte da eine Beschwerde wegen des Schnees. Das finde ich extrem lästig, dass es heute so schneit und da wollte ich jetzt einfach mal…“

„Sie beschweren sich also darüber, dass es im Januar schneit?“

„Ja, also, weil das kommt mir jetzt extrem ungelegen und ist sehr lästig.“

„Ihnen ist aber schon klar, dass Schnee im Januar ein vollkommen reguläres Wetterphänomen ist?“

„Ja, schon, aber regulär oder nicht, es ist einfach extrem…“

„Von extrem kann gar keine Rede sein und ich fürchte sehr, dass ihre Beschwerde hier nicht entgegen genommen werden kann. Das liegt eher an ihrer persönlichen Einstellung. Ich werde Sie deshalb gleich an unsere Mental-Support-Abteilung weiterverbinden. – bieep – bieep-“

 

„Wetter-Hotline-Beschwerdestelle-Mentalsupport, mein Name ist Maria Sonnenschein, was kann ich für Sie tun?“

„Ja, hallo, also, wissen Sie, dieser Schnee nervt irgendwie total und ich dachte, man könne da irgendetwas tun.“

„Sie fühlen sich also unwohl, weil es schneit?“

„Ja, also unwohl, ja, irgendwie schon, es nervt halt einfach.“

„Haben Sie schon einmal versucht, die ganze Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten?“

„Wie?“

„Nun, denken Sie zum Beispiel einfach mal daran, wie froh die armen Menschen in Afrika um ein bisschen Abkühlung wären.“

„Ja, schon, aber wenn es bei denen schneien würde, würde mich das auch nicht stören, bloss hier nervt es.“

„Aha! Ihnen ist es also ganz egal, wenn die Leute anderswo zu leiden haben, Hauptsache Ihnen geht es gut?“

„Nein, so habe ich das nicht gemeint, Sie haben doch gesagt, die würden sich freuen.“

„Ich sehe, so kommen wir nicht weiter, aber ich empfehle Ihnen dringend, mal ihre Einstellung andern Völkern gegenüber zu überdenken. Rassismus ist etwas sehr Unschönes.“

„Ich bin doch nicht rassistisch! Ausserdem haben Sie ja von den Afrikanern angefangen!“

„Wie gesagt, so kommen wir nicht weiter. Also versuchen wir es anders. Haben sie eigentlich schon einmal eine Schneeflocke genauer angeschaut? Haben Sie sich schon einmal Gedanken über diese unglaubliche Schönheit gemacht, über die perfekten Formen?“

„Naja, schon, aber…“

„Finden sie die Form einer Schneeflocke ästhetisch ansprechend, ja oder nein.“

„Ja, schon irgendwie aber…“

Und wie kommt es dann, dass sie zwar offenbar doch mental noch nicht so degeneriert sind, dass sie eine Schneeflocke nicht schön finden, wenn Sie aber mit einer grösseren Menge davon konfrontiert werden, in eine Krise geraten?“

„Naja, zu viel der Guten oder so?“

„Ha! Jetzt dreschen wir hohle Phrasen, wie? Wenn etwas gut ist, dann kann es überhaupt nicht sein, dass eine grössere Menge davon nicht mehr gut ist. Machen sie sich das bewusst und es wird Ihnen besser gehen!“

„Aber es ist Matsch!“

„Beschweren Sie sich jetzt über Schnee oder über Matsch?“

„Also, erst wollte ich mich über Schnee beschweren, aber inzwischen hat es aufgehört und jetzt ist es Matsch geworden!“

„Für Matsch sind wir nicht zuständig. Und wenn es aufgehört hat zu schneien, weiss ich wirklich nicht, worüber sie sich beschweren. Ist doch alles wunderbar.“

„Naja, also, ok. Tschuldigung…“

„Denken Sie positiv!“

„Ja, sie mich auch….“

„Immer gerne, ich wünsche Ihnen auch weiterhin einen wunderschönen und beschwerdefreien Tag!“

 

„duuuuut…“


Jogging

Eigentlich war ich heute wiedermal mit Bruno verabredet für einen unserer gemeinsamen Spaziergänge. Aber Bruno kann nicht kommen, weil er sich gestern beim Jogging den Fuss verknackst hat.


Dass Bruno joggt, ist eine relativ neue Erscheinung und hängt damit zusammen, dass er über den Winter drei Kilo zugenommen hat. Ich weiss zwar nicht, wo er dieses zusätzliche Gewicht versteckt, er wirkt auf mich noch genau so drahtig wie im Herbst, aber er findet diese Entwicklung so beunruhigend, dass er beschlossen hat, etwas dagegen zu unternehmen.
Und weil er nichts von Diäten hält, versucht er es eben mit mehr Bewegung.

Sein Versuch, mich zu überreden, ihn beim Lauftraining zu begleiten, scheiterte an meiner Faulheit und der Tatsache, dass ich mit meinem Gewicht durchaus zufrieden bin.

So schlendere ich alleine über die Felder (Bruno werde ich nachher dann noch besuchen) und mir fällt auf, wie viele Leute rennend unterwegs sind, mit roten Köpfen stampfend und schnaubend an mir vorbeiziehen.

Und ich habe den Verdacht, dass dies zum Teil die gleichen Leute sind, die auf jeder Rolltreppe stur stehen bleiben, weil die sich ja von selbst bewegt, oder für die kürzesten Wege ins Auto steigen. Zum Beispiel für den Weg ins Fitnessstudio, wo sie sich dann auf Laufbändern abquälen.

Aber ich will nicht lästern, ich hab ja grundsätzlich nichts gegen Sport.
Und Langstreckenläufer werden ja auch durch die Ausschüttung von diesem Endorphinzeugs für ihre Mühe belohnt. Das ist dann ein bisschen wie guter Sex, habe ich mir sagen lassen, und nennt sich Runners high.
All die schwitzenden und keuchenden Leute die mir begegnen, sehen also nur so aus, als bestraften sie sich selbst für irgendwelche unbekannten Sünden.

In Wahrheit erleben sie gerade die höchsten Gipfel der Freude.

Ich glaube, Bruno, der Neojogger hat dieses Runners high bisher noch nicht erlebt. Seine erste Woche als Sportler war vor allem von Muskelkater geprägt und fand nun in einem verstauchten Fuss ein vorläufiges und schmerzhaftes Ende.

Ich hingegen erlebe zwar ebenfalls keine übermässige Endorphinausschüttung, aber doch eine - zugegeben etwas eitle - Selbstzufriedenheit, weil ich mich frei fühle vom grassierenden Fitness und Schönheitswahn und den damit verbundenen Selbstkasteiungen.

Und während ich mich an diesem Gedanken innerlich aufbaue und all die schweissnassen und atemlosen Sportler schon fast ein wenig bedaure, ziehen schwarze Wolken auf und von einem Moment zum anderen beginnt es in Strömen zu regnen.

Da es weit und breit nichts zum Unterstehen gibt, renne ich los.

Eine Viertelstunde später stehe ich vor Brunos Wohnungstür, ausser Atem und nass bis auf die Knochen. Er grinst mich breit an. „Ich dachte, du wolltest nicht joggen?“

Er leiht mir einen trockenen Pullover und ich mache ihm einen neuen Eisbeutel für seinen Knöchel.
Dann fläzen wir uns aufs Sofa, trinken Kaffee und essen Zitronenkuchen.

Bruno gönnt sich zwei Stücke, um meinen heutigen, gesteigerten Kalorienverbrauch auszugleichen.

Ein Teil zu viel

Heute war Sarah wieder einmal zu Besuch. Sarah ist sieben und die Tochter einer Freundin. Und sie liebt Tiere über alles.

 

Deshalb gehen wir immer, wenn sie zu uns kommt, in den Zoo.

 

So auch heute. Begeistert schaute sie zu, wie die Pinguine ihren Spaziergang machten, wie die fünf jungen Geparde unter den wachsamen Blicken ihrer Mutter Fangen spielten, wie die Elefanten dem Tierpfleger halfen, einen grossen Karren mit Ästen zu schieben und ihn dann selbständig ausluden.

 

Mit viel Geduld entdeckte sie eins der jungen, winzigen Krokodile, das sich zwischen dem Schilfgras versteckte und staunte beim Anblick seines vier Meter langen Papis, der träge zwischen einem riesigen Schwarm Sumatrabuntbarsche im Wasser hing.

 

Beim Ausgang fragte Sarah mich, ob wir noch in den Zooladen gehen könnten, sie habe Taschengeld dabei.

 

Ich wunderte mich nicht, als sie sich ein Puzzle aussuchte und mit einem kleinen Zustupf meinerseits konnte sie es sich sogar leisten. Puzzles sind nämlich Sarahs zweitgrösste Leidenschaft und Puzzles mit Tierbildern stehen in ihrer persönlichen Hitparade ganz weit oben.

 

Damit war dann auch klar, womit wir uns den Rest des Tages beschäftigen würden, auch wenn ich selbst Sarahs Puzzlebegeisterung nicht wirklich teile. Aber es machte Freude, ihr dabei zuzuschauen, wie sie mit der grössten Konzentration das Pinguinbild zusammensetzte.

 

Als das Bild fertig war, blieb allerdings ein Teilchen übrig. Das war seltsam. Das Puzzlestück gehörte offensichtlich nicht zu diesem Pinguinbild, denn es zeigte den vorderen Teil eines Hundes, der im Gras lag und uns ein wenig fragend anschaute.

 

Ich stellte mir gerade vor, dass derjenige, der das Puzzle, zu dem dieser halbe Hund gehörte sich ziemlich ärgern würde, wenn er feststellte, dass er entlaufen war, als Sarah meinte: „Das arme Hündchen!“

 

Und tatsächlich hatte der Anblick dieses Puzzlestückchens, das da so alleine und fremd vor uns lag etwas seltsam Rührendes.

 

Also holte ich ein Blatt Papier und Stifte und Sarah und ich verbrachten eine vergnügliche halbe Stunde damit, dem halben Hündchen eine neue Umgebung zu zeichnen, eine kleine Welt, in die es hineinpasste und Sarah erfand auch gleich eine Geschichte dazu, in der ein Mädchen einen kleinen Hund fand, den niemand haben wollte.

 

Als Sarah dann nach Hause gegangen war, dachte ich mir, dass es oft die Teile sind, die scheinbar nirgendwo hinpassen, die unsere Phantasie am meisten anregen.

 

 


Klartext

Meine lieben Freunde,
es gibt Zeiten, da ist es angebracht zu schweigen, ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass jedes Wort, das dieses Schweigen unterbrechen würde, als äusserst störend, befremdend, oder gar destruktiv empfunden und zu Recht auch kritisiert werden dürfte oder müsste.
Nun aber, und dies sage ich nach reiflicher Überlegung und nach sorgfältiger Erwägung aller Pros und Contras und daraus gewonnener tiefster Überzeugung - ohne jedoch deshalb einen Anspruch auf Unfehlbarkeit meines Urteils abzuleiten, wir sind ja alle nur Menschen und ich nehme für mich da gar keine Sonderstellung in Anspruch - nun aber, meine lieben Freunde ist diese Zeit vorbei.
Dies sage ich im vollen Bewusstsein, dass man auch immer alles ganz anders sehen und verstehen kann, dass alles auch immer eine Frage der jeweiligen Perspektive und natürlich des sozialen Umfeldes, von welchem wir geprägt werden ist und dass die Gesellschaft als ganze ebenso im Auge behalten werden sollte, wie auch das Schicksal und Wohlergehen jedes Einzelnen.
Ich weiss wohl, dass ich mich mit diesen Aussagen nun sehr weit aus dem Fenster lehne, aber auch dies habe ich sehr wohl bedacht und bin durchaus bereit die Konsequenzen, jede Einzelne davon, auf mich zu nehmen und zu tragen.
Denn es geht hier um die Sache, dies kann ich nur immer wieder von neuem betonen, und die steht in ihrer Wichtigkeit ja ganz ausserhalb jeder persönlichen Kritik oder gar Anfeindung, die man ihr, oder denen, die sie vertreten und sich für sie einsetzen, entgegenbringen mag.
Und weil diese Sache, ich betone noch einmal, dass es nichts Persönliches ist, deshalb soll sich bitte auch niemand persönlich angegriffen fühlen - nichts läge mir im übrigen ferner, wie käme ich auch dazu? - weil diese Sache sich also nicht weiterhin einfach nur still ignorieren lässt, habe ich nun mein Schweigen gebrochen und meinen Standpunkt hier dargelegt, nach bestem Wissen und Gewissen.
Und es bleibt mir nur noch die Hoffnung auf eure Toleranz und Einsicht und auf eure Bereitschaft, diese meine Darlegungen wohlwollend und vorurteilsfrei, wenn auch nicht ungeprüft, in Erwägung zu ziehen.