Die Kleinen Dinge


Verursacht ein fallender Baum im Wald ein Geräusch, wenn niemand dort ist, der es hören könnte?

Das ist eine Frage, eine der grossen Fragen, die sich Philosophen stellen, eine dieser präzisen, sinnvollen Fragen, auf die es nur eine vollkommen klare Antwort gibt.

Sie lautet: Vielleicht.

Gestärkt durch dieses Wissen fragen die Philosophen weiter: Existiert der fallende Baum im Wald, wenn niemand da ist, der ihn sieht?

Existiert der Wald, in dem der Baum fällt, wenn ihn niemand je gesehen und davon erzählt hat und ist nicht überhaupt alles auf der Welt nur subjektive Wahrnehmung?

Und was heisst wahr-nehmen denn anderes als etwas für wahr zu nehmen und zu beschreiben, ohne wirklich zu wissen, ob es nicht einfach eine gigantische Täuschung ist, vorgegaukelt von unseren Sinnen?

Welche Sinne?

Welche Welt?

Nun sind solche Fragen im Allgemeinen ziemlich anstrengend und deshalb ist es ganz verständlich, dass auch Philosophen nach acht Stunden intensiven Nachdenkens abends gerne mal Feierabend machen, sich aufs Sofa lümmeln und bei Salzgebäck und Bier noch ein bisschen TV schauen, bevor sie ins Bett gehen und sich aufs Träumen verlegen – auch wenn sie die Sache mit dem Sinn von Träumen noch nicht restlos geklärt haben.

Mit dem Philosophen ruhen für heute auch die grossen Fragen und es beginnt die Zeit der kleinen Dinge. Weil niemand da ist, der sie sieht oder hört, kann auch niemand sagen, ob die kleinen Dinge existieren und was sie so treiben – aber das ist ihnen zum Glück ziemlich gleichgültig.

 

Im schmalen Streifen silbernen Vollmondlichts, welches durch die nicht ganz geschlossenen Fensterläden ins Zimmer fällt, tanzt der Staub beinahe ein bisschen glamourös herum, gleichzeitig liegt er grau und träge auf fast allen Flächen der Möbel und Gegenstände, besonders dick auf den Büchern im Regal an der Wand, etwas dünner auf der Fläche des Schreibtischs, wo ein ziemliches Durcheinander aus Papier, Stiften und allerlei anderen Dingen herrscht – der Philosoph ist zwar kein Genie, aber das mit dem Chaos beherrscht er dennoch recht gut.

Die alte Pendeluhr an der Wand zählt wie immer die Sekunden. „Tick-tack-tick-tack“ – mehr fällt ihr auch heute nicht ein, als die Zeit in regelmässige, leicht überschaubare Portionen zu zerteilen.

Vom Schreibtisch her tönt ein röchelndes Husten. Danach eine nörgelnde Stimme:

„Immer das Gleiche! Wann lernt dieser Mensch endlich mal eine ordentliche Haushaltsführung? Eine Zumutung ist das, mich den ganzen Tag mit stinkenden Kippen zu füllen und dann einfach in diesem traurigen Zustand die ganze Nacht stehen zu lassen!“

Der Aschenbecher ist sehr unzufrieden mit seinem derzeitigen Zustand, ja im Grunde mit seiner ganzen traurigen Existenz hier in diesem Zimmer, auf diesem Tisch. Dabei hatte alles so gut angefangen, damals vor vielen Jahren, als ihn menschliche Hände geformt und mit einem hübschen Blümchenmuster dekoriert hatten. Gut, was danach folgte, war weniger angenehm gewesen, das Brennen im Ofen – das war sehr heiß gewesen, aber er hielt das aus und wusste, dass er es über sich ergehen lassen musste um für den Rest seines Daseins gerüstet und abgehärtet zu sein. Danach stand er lange Zeit in einem Regal, zusammen mit anderem Porzellan, bis er schliesslich gekauft wurde. Dass man ihn dann allerdings für so etwas Hässliches benutzte, wie stinkende Zigarettenkippen auszudrücken, war eine immerwährende Kränkung und es gab kaum eine Nacht, in der er sich nicht bitter darüber beklagte.

„Na, du hast vielleicht Probleme!“, meint da eine der Kippen. „Lamentierst hier rum, hälst dich wohl für etwas Besseres, wie?“

„Ganz gewiss für etwas Besseres als dich abgebrannten Gesellen, tatsächlich!“ antwortet der Aschenbecher – um gleich darauf einen erneuten Hustenanfall zu erleiden.

„Ach, seid doch still!“, mischt sich die Teetasse ein.

Auch sie trägt ein hübsches Blümchenmuster, kommt sogar aus dem gleichen Laden wie der Aschenbecher, ja im Grunde sind sie noch näher verwandt, als sie selbst ahnen, denn sie stammen von der gleichen, feinen Porzellanerde ab. Allerdings hat die Teetasse mehr Glück – als Tasse führte sie bisher eine wesentlich angenehmere Existenz, auch wenn sie den Verlust ihrer Untertasse, einer Begleiterin seit den frühesten Tagen, die erst vor zwei Wochen dem Ungeschick des Philosophen zum Opfer gefallen ist, noch nicht ganz verwunden hat. Seither muss sie als Singletasse auf dem eigenen Fuss stehen und hat sich noch immer nicht daran gewöhnt. Sie trägt Trauer und einen eingetrockneten Rest Earl-Grey in ihrem Innern.

„Abgebrannter Geselle?“, entrüstet sich da die Kippe. „Ja denkst du denn, mir macht das Spass? Ein kurzes, vielversprechendes Leben als Pflanze und dann nichts als Asche – und da werde ich auch noch als ungesund verteufelt und als Stinker denunziert! Dabei wäre ein wenig Mitgefühl wohl angebracht, aber das kann man ja von einem, der innen bloss hohl ist, kaum erwarten!“

Die Tasse seufzt leise. Und denkt daran, wie es wäre, einfach zu zerspringen. „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ , flüstert der Staub mit einem trockenen Kichern. Er findet solche Streitereien immer wieder höchst amüsant. Worüber sich solche Kleingeister doch ereifern können – einfach köstlich! Er selbst ist gewiss kein Kleingeist. Er hat schon alles gesehen, war schon in jedem Winkel der Welt, kennt sich aus, ist omnipräsent seit dem Beginn des Universums und wird auch noch da sein, wenn alles andere nicht mehr existiert.

„Also, ich finde diese Unterhaltung alles andere als erspriesslich!“, meldet sich nun auch noch die Lesebrille zu Wort. „Ihr solltet wirklich aufhören, über so banale Dinge zu streiten. Schliesslich sitzen wir hier alle im selben Boot, oder besser gesagt im selben Zimmer und jeder von uns könnte sich wohl eine andere oder bessere Existenz vorstellen, als ihm hier geboten wird.“

„Naja,“ meint die Füllfeder. „Da magst du ja schon Recht haben – allerdings verstehe ich nicht, worüber ausgerechnet du zu jammern hättest, denn von uns allen scheinst du doch hier die angenehmsten Lebensumstände zu haben. Immer ein gutes Buch zu lesen, immer etwas Interessantes zu sehen...“ „Interessant?“, fällt ihr die Lesebrille ins Wort. „Philosophische Bücher sind ja wohl kaum besonders interessant! Und das andere Zeugs, das dieser Mensch liest auch nicht – bis auf vielleicht mal den einen oder anderen Brief, aber die werden auch immer seltener. Wenn er wenigstens gute Geschichten lesen würde, einen Agentenroman oder Krimi. Und ausserdem lässt er mich nie fernsehen!“

„Das mit den Briefen stimmt. Die werden tatsächlich seltener, er schreibt kaum noch welche.“, bestätigte die Füllfeder nachdenklich. „Und auch mir würde es besser gefallen, wenn er mit mir mal über etwas anderes schreiben würde, als dieses Zeugs von fallenden Bäumen und so. Kann ja niemand verstehen, was er damit eigentlich meint.“

Der Schreibtisch unter ihnen erschauert leise.

Dann knarrt er: „Was ist denn mit fallenden Bäumen?“

„Tick-tack-tick-tack“, zählt die Uhr in der nun plötzlich einsetzenden Stille.

Nur ganz selten meldet sich der Schreibtisch zu Wort und es ist immer beeindruckend, der knarzenden Melancholie seiner Stimme zu lauschen. Doch als nichts weiter folgt, räuspert sich der Aschenbecher und sagt:

„Ach je, das wird wohl nichts Weltbewegendes sein. Ein Mensch, der zu unseriös ist, seinen Aschenbecher abends zu leeren und abzuwaschen, kann ja wohl gar nicht die intellektuelle Kapazität aufbringen, etwas Sinnvolles zu schreiben.“

„Meine Güte“, entflammt nun die Kerze in hellem Zorn. „Jetzt reicht es aber wirklich langsam mit dem Genörgel! Es ist nun einmal deine Bestimmung, mit Kippen gefüllt zu werden! Genauso wie es die Meine ist, in meiner kurzen Existenz Licht zu spenden und mich selbst dabei zu verzehren! Es ist das, wofür wir erschaffen wurden von den Menschen und ohne die Menschen würde es uns überhaupt nicht geben! Wir haben diese Bestimmung zu erfüllen und mehr noch: Wir sollten dankbar sein dafür, statt uns zu beklagen!“

Die Kerze ist aus Resten anderer Kerzen gemacht, die einst in einer Kirche gebrannt haben. Sie weiss das nicht, aber es prägt doch ihre Ansichten und ihren Ton.

„Ja, ja, schon gut...“, grummelt der Aschenbecher.

Mit der Kerze will er sich lieber auf keinen Streit einlassen. Mit einem letzten, theatralischen Husten, das mehr einem Todesröcheln gleicht, verstummt er beleidigt.

„Was ist denn mit fallenden Bäumen?“, beharrt nun der Schreibtisch auf seiner Frage und die Füllfeder antwortet zögernd:

„Also, so ganz genau erinnere ich mich nicht mehr, aber ich glaube, es ging um die Frage, ob ein fallender Baum im Wald Lärm macht.“

„Ja,“, bestätigt die Lesebrille, „genau darum ging es. Ich habe viel darüber gelesen, aber irgendwie habe ich es nicht verstanden. Ich habe ja auch noch nie einen Wald gesehen.

„Echt?“ wundert sich die Füllfeder, „Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Ich habe immer geglaubt, von uns allen hättest du am meisten von der Welt gesehen!“ „Hallo? Schon mal bemerkt, dass ich eine Lesebrille bin? Die trägt man nicht, wenn man draussen herumspaziert. Alles, was ich von der Welt weiss, stammt aus verstaubten Büchern!“

„Ach ja, entschuldige bitte, das hatte ich ganz vergessen.“

„Ich kenne den Wald.“, sagt der Schreibtisch. „Ich wurde im Wald geboren, bin gross geworden dort und dann....“

„Ja?“ fragt die Kerze voll banger Erwartung.

„Dann bin ich gefallen. Oder besser gesagt: Man hat mich gefällt.“

„Tick-tack-ti....-tatick-tack-tick“, vor Spannung ist die Uhr, die bloss so tut, als interessiere sie sich für nichts, aus dem Tritt geraten – auch ihr Gehäuse erinnert sich vage an eine frühere Existenz und bei den Worten des Schreibtisches wird ihr ganz seltsam.

„Und hast du beim Fallen Lärm gemacht?“, will die Lesebrille nun wissen – ziemlich unsensibel, wie die Teetasse findet. Und ausserdem, wen interessiert das schon ernsthaft. Sie hat den Schmerz in der Stimme des Schreibtisches gehört und fragt deshalb behutsam:

„Möchtest du uns vom Wald erzählen?“

Der Schreibtisch schweigt eine Weile, als ob er tief in der Schublade seiner Erinnerung graben müsste. Dann beginnt er zu erzählen.

Er erzählt vom Licht, vom Wind in den Blättern, vom Regen, von den Vogelnestern in seiner Krone, vom Gezwitscher im Frühling, von der Stille im Winter, dem Schnee, der die abgeworfenen Blätter am Boden bedeckte. Er erzählt, wie es gewesen war, die Wurzeln immer tiefer in den Boden zu strecken und die Äste gegen den Himmel zu recken, neben all den anderen, die vielleicht noch immer dort standen, aber das alles sei schon so lange her und vielleicht seien auch sie inzwischen zu Kommoden, Schränken oder Tischen verarbeitet von Menschen, die alles gestalteten, alles in ihren Dienst stellten.

„Hört, hört! Wohl gesprochen!“, sagt der Aschenbecher – aber nur ganz leise und mehr für sich. Alle anderen schweigen, sie haben Mitleid mit dem Schreibtisch. Und ein bisschen auch mit sich selbst.

Dann behauptet die Kerze: „Es ist nun mal so. Es ist unsere Bestimmung, ohne die Menschen gäbe es uns gar nicht, also haben wir ihnen zu dienen.“ „ER würde existieren – als Baum!“, widerspricht die Füllfeder heftig. „Aber es bringt nichts, darüber zu lamentieren, es ist nun mal, wie es ist und das lässt sich nicht ändern. Hier im Raum gibt es niemanden, der nicht durch die Menschen fremdbestimmt würde.“

„Ach ja?“, flüstert der Staub. „Das glaubst du wohl, wie? Aber du täuschst dich, denn du hast mich vergessen.“

„Herrje!“, höhnt der Aschenbecher, „ausgerechnet du wähnst dich wohl über uns anderen stehend, wie? Staub! Gewöhnlicher Hausstaub, ich bitte dich!“ Der Staub gibt keine Antwort, wozu auch? Es ist Zeit, mit dem Gerede aufzuhören und zur Tat zu schreiten. Die Schilderung des Schreibtisches hat ihn gerührt und er beschliesst, ihm zu helfen.

Staub, egal, ob Hausstaub, Blütenstaub, Holzstaub, Goldstaub, Kohlestaub, Sternenstaub, Zauberstaub, Feinstaub oder irgendein anderer Staub, ist ein riesiges Schwarmwesen mit einem weltumspannenden kollektiven Bewusstsein, das sonst eigentlich nicht für ein ausgeprägtes Mitgefühl bekannt ist. Meistens begnügt es sich damit herumzuhängen, gleichgültig den banalen Schicksalen der kleinen Dinge gegenüber. Weshalb es nun in diesem Fall anders ist, bleibt unklar – die Staubforschung steckt noch in den Kinderschuhen und die Staubpsychologie ist noch nicht einmal eine anerkannte Disziplin – aber egal. Jedenfalls gerät der Staub nun in Bewegung und mobilisiert all jene winzigen Partikel seines gigantischen Selbst, die auf irgendeinem seltsamen Weg Vitalkraft gespeichert haben. Blütenstaubpartikel zB. oder Pilzsporenstaub sammelt sich und kriecht durch Fenster- und Türritzen ins Zimmer, legt sich als schimmernde Schicht um den traurigen Schreibtisch und diesem wird ganz seltsam.

Das schon lange tot geglaubte Holz beginnt plötzlich zu kribbeln und erinnert sich an das Gefühl damals im Wald, in jedem Frühling, als es sich mit dem Wasser aus dem Boden belebte und der Drang, sich nach unten und oben zu strecken und zu dehnen übermächtig wurde. Der Tisch knackt und knarzt, doch nun nicht melancholisch wie sonst, sondern voller Ungeduld und beinahe euphorisch. Dann schiessen aus jedem seiner vier Beine kräftige Pfahlwurzeln nach unten, durchdringen den Zimmerboden, das Kellergeschoss darunter und finden schliesslich feuchte, duftende Erde, in die sie sich festkrallen und weiterwachsen, während die Nahrung aus dem Boden hochgepumpt wird und das Holz zum aufquellen und schliesslich zum wachsen veranlasst.

Die eben noch grazil gedrechselten Tischbeine werden zu kräftigen Stämmen, dazwischen schiesst die Tischplatte in die Höhe und mit ihr die Dinge, die darauf liegen. Aschenbecher, Teetasse, Lesebrille, Füllfeder und Kerze – neben ihnen brechen Äste hervor, kräftige Äste, welche problemlos ein grosses Loch ins Dach schlagen, als sie mit Wucht dagegen stürmen. Ein heftiger Windstoss weht die Papierstapel vom Baumtisch, weisse Blätter trudeln in die Tiefe, dafür wuchert jetzt überall Grün und als sich die erste Morgendämmerung am Himmel zeigt, steht der Baum in voller Grösse da und man muss schon gut hinschauen um in seinem Geäst jene Gegenstände zu entdecken, deren nächtliche Unterhaltung der Auslöser für diese Seltsamkeit gewesen ist.

Als der Philosoph wenig später aus seinem Schlafzimmer ins Arbeitszimmer tritt, fragt er sich zuerst erstaunt, woher denn bloss dieser Baum gekommen ist. Als nächstes fragt er sich, ob der Baum beim Wachsen wohl ein Geräusch gemacht hat, auch wenn ihn niemand dabei belauscht hat. Die Uhr an der Wand zählt stoisch die Sekunden: „Tick-tack-tick-tack“ und äussert sich im Übrigen nicht weiter dazu.