Novembergeschichte


1. Begegnung

Das Jahr ist alt geworden. Graue Nebelsträhnen hängen zwischen den fast kahlen Bäumen. Man denkt an die Toten.
Flurina spaziert dem kleinen Fluss entlang, der sich leise murmelnd und ohne Eile zwischen grossen Felsblöcken und Schwemmholz seinen Weg sucht.
Nein, er sucht den Weg nicht, er selber ist der Weg und der führt zum grossen Fluss und dann zum Meer, das weit oben im Norden liegt und von wo im Herbst immer die Möwen kommen um hier zu überwintern.
Auf einem der Felsblöcke sitzt ein Fischer.
Er muss ein Fischer sein, denn er hält eine Angel ins Wasser und neben ihm steht ein gelber Plastikeimer, ein Bild des Optimismus, denn Flurina zweifelt daran, dass es hier etwas zu fangen gibt. Er ist aber überhaupt nicht wie ein Fischer gekleidet. Er trägt weder Stiefel noch khakifarbene Hosen mit vielen Taschen und auch kein dickes, kariertes Flieshemd mit einer Weste darüber, sondern Turnschuhe, Jeans und einen blauen Umhang, der eher zu einem Opernsänger oder Zauberer passen würde.
Und auf dem Kopf eine rot-weisse Strickmütze mit Bommel.
Der Fischer scheint Flurinas Blick zu spüren, denn er dreht den Kopf und schaut ihr mit einem breiten Grinsen entgegen. "Frag, ob sie beissen!"
Flurina, die jetzt auf gleicher Höhe mit ihm ist, bleibt stehen und fragt: "Warum?"
"Weil das die übliche Frage ist um mit einem Fischer ins Gespräch zu kommen, der eigentlich nur seine Ruhe haben möchte."
Flurina überlegt kurz, ob sie einfach weitergehen soll.
Stattdessen fragt sie: "Beissen sie?"
Der Fischer strahlt und erwidert fröhlich: "Noch nicht, aber wenn du mir Gesellschaft leisten magst, dann wird sich das sicher bald ändern."
Er greift unter seinen Umhang und zieht eine Thermosflasche hervor. "Ich hab auch Kaffee."
Flurina klettert die niedrige Böschung hinunter und setzt sich neben den Fischer auf den Felsblock. Er giesst Kaffee in eine ziemlich zerbeulte Blechtasse und reicht sie ihr. Der Kaffee duftet verführerisch und die heisse Tasse wärmt Flurinas Hände.
Sie fragt: "Möchtest du denn keine Ruhe?"
Er lächelt und sagt: "Mal sehen."
Dann blicken sie beide schweigend aufs Wasser.

2. Paillettentanz

Wenig später beisst tatsächlich einer an. Routiniert und gefühlvoll holt der Fischer seine Angel ein. Am Ende der Schnur zappelt ein kleines, silbern glänzendes Fischlein, das er geschickt vom Haken löst und in den gelben, halb mit Flusswasser gefüllten Plastikeimer gleiten lässt, wo es verzagt im Kreis schwimmt.
Flurina verzieht das Gesicht und sagt: "Der ist zu klein, lass ihn wieder frei!"
"Ja, er ist zu klein", stimmt ihr der Fischer zu, "und ich werde ihn auch wieder freilassen, aber jetzt noch nicht. Schau ihn dir doch mal an!"
Er steckt seine Hand in den Eimer und plötzlich wird der kleine Fisch ganz ruhig. Er stupst neugierig gegen die Finger des Fischers, lässt sich sogar streicheln und schmiegt sich dann vertrauensvoll an seine Handfläche.
Der Fischer lächelt und wiederholt: "Schau ihn dir nur an, den kleinen Kerl!"
Und Flurina schaut, sieht das silbrig glänzende, runde Auge des Fisches und das Auge sieht aus wie eine der Pailletten, die vor vielen Jahren auf dem Tisch ihrer Grossmutter lagen, als Flurina etwa sieben Jahre alt war. Der Tisch war gross und mit einem dicken, weichen, weissen Flanelltuch bedeckt.
Flurinas Grossmutter sitzt an diesem Tisch in ihrem Schneideratelier und näht schwarze und silberne Pailletten an ein schwarzes Kleid.
Flurina fragt: "Wer bekommt dieses Kleid?"
Die Grossmutter antwortet, ohne von dieser ermüdenden Arbeit aufzusehen: "Eine sehr vornehme und reiche Dame. Es ist ein Ballkleid und das trägt man, wenn man tanzen geht."
Flurina stellt sich diese vornehme und reiche Dame in ihrem Paillettenkleid vor, wie sie mit ihrem sicher ebenso vornehmen und reichen Mann tanzt in einem prächtigen Ballsaal und wie die Pailletten schimmern im Licht des Kronleuchters. Sie nimmt ein paar schwarze und silberne Pailletten und legt sie vor sich auf das weisse Flanelltuch und das Tuch wird zum Tanzparkett und sie gruppiert die Pailletten zu Paaren, immer eine Silberne und eine Schwarze und verteilt sie im Saal und lässt sie um einander kreisen zu den Klängen der Kapelle. Immer schneller und atemloser wirbeln die Paare herum und alles verwischt zu Schlieren aus Silber und Schwarz und die vornehmen und reichen Damen lachen auf vor Vergnügen.
"Autsch!" Die Grossmutter saugt an ihrer Fingerspitze.
"Werde ich auch einmal auf einem Ball tanzen?", möchte Flurina wissen.
"Wer weiss?", sagt die Grossmutter und lächelt. "Ich hoffe nur, dass dann diese verflixten Pailletten nicht mehr in Mode sein werden."

3. Die Erfindung

"Und hast du?", fragt der Fischer, der nun wieder auf dem Felsblock sitzt und einen neuen Köder am Haken befestigt.
"Was meinst du? Was soll ich haben?" fragt Flurina etwas verwirrt zurück.
"Na, getanzt! Auf einem Ball."
"Ähm, nein, ich hab nie auf einem Ball getanzt. Aber woher..."
"Schade.", unterbricht sie der Fischer. "Trotzdem eine hübsche Geschichte. Etwas mager vielleicht, aber hübsch. War ja auch nur ein kleiner Fisch."
Und damit wirft er erneut seine Angel aus.
"Übrigens hat einer meiner Vorfahren Paillettenkleider erfunden." erzählt der Fischer, "magst du die Geschichte hören?"
Und ohne eine Antwort abzuwarten, beginnt er: "Dieser Vorfahre lebte damals am Hof des Kaisers von China als einer der kaiserlichen Hofschneider. Genauer gesagt, war mein Ur-ur-ur-ur-usw.-Grossvater eigentlich erst ein kaiserlicher Schneiderlehrling, und er hatte erst die Hälfte seiner Lehrzeit, also zehn Jahre absolviert, als die Sache mit der Kaiserin und den Karpfen geschah.
Der Kaiser hatte nämlich eine ungewöhnliche Leidenschaft für die kostbaren Karpfen im kaiserlichen Gartenteich entwickelt, so sehr, dass er ganze Tage auf der steinernen Bank bei diesem Teich verbrachte und wie gebannt die Fische beobachtete.
Du kannst dir ja vorstellen, dass dies die Kaiserin beunruhigte, denn im Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die er der Fischen schenkte, wich er ihr aus, wo es nur ging und schien sie kaum mehr zur Kenntnis zu nehmen.
Die Kaiserin war verzweifelt und einmal rief sie während des Ankleidens, als sie in den Spiegel blickte aus: 'Ich wünschte, ich wäre ein Fisch, vielleicht würde mein Mann mich dann wieder ansehen!'
Diesen schmerzvollen Aufschrei aber hörte eine junge Zofe und die war mit meinem Ur-Ahnen liiert und sie erzählte ihm davon. Beide hatten Mitleid mit der Kaiserin und wollten ihr helfen.
'Wenn ich ein Kleid machen könnte, das aussieht wie die Haut eines Fisches, dann würde der Kaiser vielleicht die Schönheit seiner Frau erkennen.', überlegte der Schneider.
Als er am nächsten Tag über den Fischmarkt ging, kam ihm die zündende Idee, als er eine dicke Händlerin beim Entschuppen von Fischen beobachtete.
Er machte ein Kleid aus hauchdünner Seide und nähte darauf die Fischschuppen. Er brauchte dafür ein ganzes Jahr, denn er musste es heimlich nach Feierabend tun, weil ihn sonst alle für verrückt gehalten hätten. Und es war eine furchtbar mühsame Arbeit, aber am Schluss hatte er ein Kleid, das so wunderschön war, wie es noch keines zuvor gegeben hatte.
Die junge Zofe brachte das Kleid zur Kaiserin und diese war bezaubert davon. Als sie es anzog, sass es wie eine zweite Haut und sie wusste, sie würde damit das Herz ihres Gatten zurückgewinnen. Der nur ganz dezente Fischgeruch würde das Seinige dazu beitragen."
Hier unterbricht der Fischer seine Erzählung mit einem schweren Seufzer und schaut melancholisch aufs Wasser.
Flurina fragt: "Und? Hat's funktioniert?"
Er zuckt die Schultern und antwortet: "Nein. Es stellte sich nämlich heraus, dass es dem Kaiser gar nicht um die äussere Schönheit der Fische gegangen war. Was ihm an ihnen gefallen hatte, war einzig, dass sie so still waren. Er hatte jahrelang unter dem nicht abbrechenden Redestrom seiner Frau gelitten, bis er jenen Teich entdeckt hatte, an den er sich seitdem zurückzog, um seine Ruhe zu haben."

4. Wichtige Frage

Flurina und der Fischer schweigen beide und sehen zu, wie das Wasser an ihnen vorbeiströmt. Ab und zu schwimmen kleine Blattflosse vorbei, die sich langsam drehen.
Nach einer Weile meint Flurina: "Er hätte es ihr einfach sagen können. Der Kaiser hätte seiner Frau sagen können, dass er gerne zwischendurch mal Ruhe hat, dass ihm ihr Geplapper auf die Nerven geht."
Der Fischer zuckt die Achseln. "Er konnte nicht."
"Warum nicht? War er stumm oder was?"
"Nein, er war nicht stumm, im Gegenteil, er hatte sogar eine sehr schöne Singstimme. Den Karpfen hat er oft vorgesungen. Wusstest du, dass Fische sehr gut hören können?"
Flurina sagt: "Ja, aber doch nur die Geräusche unter Wasser. Ich glaube nicht, dass die Karpfen hörten, was ihnen der Kaiser vorsang."
Der Fischer lächelt: "Gut möglich. Aber irgendwie konnten sie den Eindruck vermitteln, sie hörten dem Kaiser zu. Manchmal glaubte er sogar, die Fische wiegten sich im Rhythmus seines Liedes. Und das beflügelte ihn und machte ihn glücklich. Es gibt keine besseren Zuhörer als Fische."
Flurina kommt wieder zu ihrer Ausgangsfrage zurück. Sie will dem Fischer sein Ausweichmanöver nicht durchgehen lassen. Deshalb wiederholt sie noch einmal: "Warum konnte der Kaiser seiner Frau nicht sagen, sie solle weniger reden?"
Der Fischer wendet sich Flurina nun voll zu und sie hat den Eindruck, dass seine Augen tatsächlich einen ganz leicht asiatischen Schnitt haben. Kann es sein, dass die Geschichte, die er ihr gerade erzählt hat, nicht völlig frei erfunden ist, dass es tatsächlich einen Vorfahren am Hof des Kaisers von China gab?
Und wieder scheint er ihre Gedanken zu lesen, denn er sagt: "Was ist wahr und was ist erfunden? Erfinden wir nicht täglich unsere Wahrheit? Ausserdem spielt es für mich keine Rolle. Ich bin Fischer."
Und dann endlich kommt doch noch die Antwort auf Flurinas eigentliche, ausgesprochene Frage, vorgetragen mit der allergrössten Ernsthaftigkeit: "Der Kaiser konnte seiner Frau nicht sagen, dass sie weniger reden solle, weil sie ihn nicht zu Wort kommen liess."

5. Der nächste Fang

In diesem Moment zuckt die Angel des Fischers erneut und er springt förmlich hoch und landet auf den Füssen. Diesmal scheint es ein viel grösserer Fisch zu sein, denn er wirkt aufgeregt und gleichzeitig hoch konzentriert. Die Angelrute biegt sich durch, als er langsam daran zu ziehen beginnt. Dann lässt er etwas nach, dreht rasch die Kurbel, zieht erneut, lässt nach, dreht, wiederholt das Ganze fünf mal und Flurina blickt voller Spannung auf die Stelle, wo die Schnur im Fluss verschwindet.
Dann plötzlich ein Ruck und die Beute baumelt über dem Wasser.
Ein alter Schuh.
Flurina lacht. "Na, das ist aber ein ganz besonderer Fisch!"
Der Fischer sagt pathetisch: "Unterschätze nie etwas, das du mit eigener Angel aus dem Wasser ziehst, manchmal erweist sich das unansehnlichste Objekt als der lang ersehnte Schatz."
Er holt die Angel ein und greift nach dem nassen Schuh, einem schweren, schwarzen Wanderstiefel, und löst ihn vom Haken. Fast liebevoll stellt er ihn neben den gelben Eimer. Der Schuh ist halb mit Wasser gefüllt und der Fischer beugt sich nun darüber um hinein zu sehen.
Nach einer Weile sagt er: "Siehst du, was habe ich gesagt?"
Dann nimmt er den Schuh und kippt ihn über dem Eimer aus und Flurina staunt, als ein winziger Fisch zusammen mit dem Wasserschwall im Eimer landet.
Sie sagt: "Der ist ja noch kleiner als der Erste! Ein schuhbewohnender Zwergfisch. Und schau dir bloss mal an, was für ein Gesicht er macht, ich glaube, seine neue Umgebung gefällt ihm nicht besonders gut."
Und tatsächlich scheint es so, als mache dieser Fisch ein besonders grämliches Gesicht. Kann ein Fisch ein Gesicht machen? Ist er zu Mimik überhaupt fähig?
Aber dieser Fisch hat tatsächlich und unbestreitbar einen Gesichtsausdruck und Flurina kommt er sogar irgendwie bekannt vor. Sie kannte jemanden, der manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, genau so aussah.
"Er sieht aus wie mein Grossvater! Ist das nicht verrückt?"
Der Fischer fragt: "Wirklich? Ich habe gedacht, dein Grossvater hatte das Gesicht eines Clowns."
"Ja, das schon, aber manchmal hat er genau so ausgesehen, da schlich sich dieser grämliche Zug auf sein Gesicht. Nie lange, aber manchmal blitzte er kurz auf und..." Sie unterbricht sich plötzlich und schaut den Fischer irritiert an. "He, woher weisst du, wie mein Grossvater ausgesehen hat?"
Er setzt sich, legt die Angel neben sich auf den Boden und holt ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen unter seinem Umhang hervor. Er bietet Flurina eine an und als sie ablehnt murmelt er: "Sehr klug." und lässt die Packung wieder verschwinden, ohne selbst eine genommen zu haben.
Dann meint er gelassen: "Ich weiss es ja gar nicht, aber ich bin Fischer."