6. Geschrei

Flurina hat den Verdacht, dass dieser komische Mann viel mehr ist, als ein gewöhnlicher Fischer.
Ja, ihr Grossvater hatte tatsächlich wie ein Clown ausgesehen. Er hatte ein langgezogenes Gesicht, eine hohe Stirn und sein Schädel war kahl bis auf einen Kranz schüttere Haare am Hinterkopf. Er hatte eine knubbelige, grosse Nase und einen breiten Mund und mindestens eine Million Lachfältchen um die Augen.
Grossvater war ein Aussteiger. Nachdem er sein ganzes Leben lang als Mechaniker und Lastwagenchauffeur gearbeitet hatte, kaufte er sich nach seiner Pensionierung ein Stück Land im Tessin, mit einem verfallenen alten Stall darauf, baute ihn um zu einem kleinen, schmucken Häuschen in dem er fortan mit seiner zweiten, viel jüngeren Frau lebte.
Er hat einen Weinberg, Bienen und einen grossen, schwarzen Hund, vor dem sich Flurina immer fürchtet, wenn sie den Grossvater mit ihrer Familie besuchen geht.
Manchmal hilft sie ihm bei der Traubenlese. Sie mag ihren Grossvater sehr, auch wenn er sie wohl eher uninteressant findet.
Was allerdings diese Besuche trübt und immer ein wenig anstrengend macht, ist die Tatsache, dass in Grossvaters Haus soviel geschrieen wird. Nicht etwa, weil man miteinander streiten würde, sondern weil er furchtbar schwerhörig ist.
Allerdings ist er auch sehr stur und er weigert sich kategorisch anzuerkennen, dass sein Gehör nicht mehr so gut wie früher funktioniert und dementsprechend braucht ihm auch niemand mit dem Thema Hörgerät zu kommen.
Seine Frau hat sich längst daran gewöhnt, ihn ständig anzubrüllen und wenn Flurina mit ihren Eltern und Geschwistern dort zu Besuch ist, müssen alle die Stimme bis nahe an die Schmerzgrenze erheben, auch wenn sie nicht direkt mit Grossvater sprechen, damit er sich von den Gesprächen am Tisch nicht ausgeschlossen fühlt. Das gibt immer eine ganz merkwürdige Dynamik, denn durch das überlaute Reden gehen natürlich sämtliche Feinheiten und Stimmmodulationen flöten und eigentlich hört keiner mehr dem anderen wirklich zu.
Flurina sagt meistens nichts. Ihre Stimme ist von Natur aus leise und selbst, wenn sie versucht laut zu werden, sagt Grossvater sofort: "Hä?" und sie wird von den anderen umgehend und natürlich brüllend daran erinnert, doch lauter zu sprechen.
Nur Grossvater selber spricht sehr leise und wenn er etwas sagt, werden alle sofort ganz still und hören wie gebannt zu.
Eigentlich ein guter Trick.

7. Heizkissen und Zigaretten

"Das ist nicht nur ein guter Trick, das ist Macht", sagt der Fischer. "Nur sehr mächtigen Leuten gelingt es, dass alle zuhören, ohne dass sie selber je die Stimme erheben müssen. Meistens, weil sie andere haben, die den Job des Rumbrüllens für sie erledigen. Aber die tatsächlich Mächtigen brauchen nicht einmal Brüller als Entourage. Denn sie sitzen in der zweiten Reihe und flüstern. Sie flüstern dem Despoten zu, was er zu tun hat, aber natürlich immer so, dass er denkt, es sei seine eigene Entscheidung gewesen."
"Ja, ich weiss", meint Flurina schulterzuckend, "das sagt man immer, aber ich bin nicht sicher, ob das nicht einfach ein Klischee ist, das nicht wahrer wird, nur weil es alle einander nachplappern. Übrigens bekomme ich langsam aber sicher einen eiskalten Hintern. Ich glaube, ich geh dann mal besser weiter. Ich hoffe, du fängst heute noch was Grösseres."
"Bisher war der Fang gar nicht so schlecht.", sagt der Fischer und greift dabei wiedermal unter seinen Umhang. "Eine Grossmutter und eine Grossvatergeschichte. Aber vielleicht lässt du dich ja bewegen, noch ein wenig länger zu bleiben."
Er streckt ihr ein blau-grün gestreiftes Kissen entgegen und als sie es anfasst ist es merkwürdig warm. Dankbar schiebt sie es sich unter den Allerwertesten und sofort scheint die drohende Blasenerzündung in weite Ferne gerückt. Die Wärme kriecht ihr den Rücken hoch, erreicht den Nacken , sogar die Ohren werden warm.
"Würde ich es bereuen, wenn ich dich bitten würde mir zu sagen, wer zum Teufel du eigentlich bist?", fragt Flurina.
"Ich bin Fischer.", sagt der Fischer. "Und wenn du magst, erzähle ich dir noch eine Geschichte über Macht , die gerade so gut zum Thema passt."
"Noch eine Vorfahrengeschichte aus China?", möchte Flurina wissen.
Der Fischer lächelt. " Ja, eine Vorfahrengeschichte, aber nicht aus China. Weisst du, ich habe nicht nur dort Vorfahren. Wir sind eine ziemlich multikulturelle Familie."
Er greift wieder unter den Umhang und zieht erneut sein Zigarettenpäckchen hervor. Und jetzt zündet er sich auch wirklich eine an und meint entschuldigend lächelnd: "Sorry, ich hoffe es stört dich nicht. Weisst du, mit dem Rauchen ist es für mich wie für meinen Vorfahren mit der Macht. Mass halten wäre am Platz. Ein bisschen davon macht Spass. Zuviel kann tödlich sein."
Der Fischer nimmt einen tiefen Zug und beginnt dann zu erzählen.

8. Das Schweigen des Despoten

"Einer meiner Urahnen lebte in Afrika, in einem kleinen Land namens Batangu, das heute von der Landkarte und aus den Geschichtsbüchern verschwunden ist. Dieses Land war ein kleines Königreich und sein damaliger Herrscher war nicht schlimmer, als das der handelsübliche Despot eben ist.
Mein Vorfahre lebte an seinem Hof als königlicher Berater, denn er war lange im Ausland gewesen und sehr gebildet. Er hatte einen Freund, mit dem er eine grosse Leidenschaft teilte, oder vielleicht eher ein Laster: Das Wetten. Sie wetteten bei jeder Gelegenheit. Und beide hatten es sich zum Sport gemacht, immer abstrusere Wettideen zu entwickeln.
Ja und eines Tages, als sie wiedermal zusammensassen und beide schon leicht betrunken waren, unterhielten sie sich über Macht und mein Vorfahre behauptete, er sei in Wahrheit mächtiger als der König und er werde es beweisen. Der Freund zweifelte das natürlich sofort an und meinte, nie im Leben könne so etwas bewiesen werden ohne den König zu stürzen und das ginge dann wohl doch eher zu weit.
Aber mein Ahne wollte den König ebenso wenig stürzen wie sein Freund. Und so sagte er, um zu zeigen, dass er mächtiger sei als der König, werde er ihn zum Schweigen bringen.
Und so ging er am nächsten Tag zum Herrscher und sprach mit ihm über Macht.
Er erklärte ihm, dass Menschen, die wenig Macht hätten, dazu neigten herumzubrüllen, denn anders würde niemand auf sie hören, Menschen mit mehr Macht redeten meist ohne die Stimme zu erheben, da sie genug andere hätten, die für sie das anstrengende Brüllen übernehmen würden. Am allermeisten Macht aber hätten die, welche überhaupt nichts mehr sagen müssten. Es würde genügen, zu nicken oder den Kopf zu schütteln.
Damit würde der Herrscher dann beweisen können, dass er mächtiger sei als alle anderen, die sich noch mit dem Formulieren von Anordnungen herumschlagen müssten.
Und tatsächlich schien es zu funktionieren. Der König verstummte. Mein Urahne übernahm nun die Rolle des königlichen Sprechers. Er verkündete die Entscheidungen des Despoten. Zudem formulierte er dem König gegenüber Anliegen und Problemstellungen, die der dann jeweils mit einem Nicken oder Kopfschütteln entscheiden konnte. Und erreichte dabei unglaubliche Einflussmöglichkeit, denn er konnte alleine durch die Auswahl und Formulierung der Anliegen den Herrscher natürlich manipulieren. Damit hätte er nun seine Wette gewonnen, aber dummerweise kam eines Tages die königliche Leibgarde in sein Schlafzimmer gestürmt, er wurde gepackt, abgeführt und geköpft.
Alle waren entsetzt, niemand hatte das erwartet und der Freund meines Ahnen warf sich vor den Thron und fragte den Despoten schluchzend, weshalb er diese Hinrichtung befohlen habe.
Der König antwortete: 'Weil ich es konnte.'
Das", schliesst der Fischer, "war wirkliche Macht."

9. Real oder wie?

"Puh", sagt Flurina, "was für eine schreckliche Geschichte!"
"Na ja, so etwas kommt schon mal vor.", erklärt der Fischer und zuckt die Schultern.
Flurina sieht ihn an und fragt: "Aber es stimmt doch nicht, oder? Ich meine, du hast diese Geschichte doch jetzt gerade erfunden um mir damit etwas klar zu machen, oder? Die Geschichte dient dazu, eine Aussage zu illustrieren. Welche eigentlich? Dass ich Recht habe und das Klischee von den mächtigen Hintermännern eben tatsächlich nicht stimmt? Dass der wirklich Mächtige immer eine Wahl hat? Oder dass es mächtig macht zu wählen?"
"Oder dass es besser ist, nicht zu wetten.", antwortet der Fischer schmunzelnd.
In diesem Moment fliegt ein Schwan an ihnen vorbei. Er fliegt so niedrig. dass er mit seinen Flügelspitzen ab und zu das Wasser berührt und so eine Spur zitternder Ringe auf der Wasseroberfläche hinterlässt. Er ist flussabwärts unterwegs und scheint es recht eilig zu haben.
Kurz darauf folgt ein Graureiher, der sich in der gleichen Richtung bewegt, dann ein Kormoran, drei Möwen, zwei Enten, fünf Krähen und ein kleines Doppeldeckerflugzeug, in dem ein Dodo sitzt, vor ihren Augen einen eleganten Looping dreht, ihnen kurz zuwinkt und dann den Krähen folgt.
"Was war denn das jetzt?", wundert sich Flurina.
"Ja, merkwürdig, nicht?", bestätigt der Fischer. "Sind alle in der gleichen Richtung unterwegs. Ob sie wohl irgendeine Versammlung haben, oder ist das bloss Zufall?"
Flurina schüttelt den Kopf. "Ich meinte eigentlich eher den Dodo im Flugzeug. Oder findest du das etwa nichts Besonderes, dass ein ausgestorbener Vogel in einem Flugzeug unterwegs ist?"
"Also, ich finde es eigentlich ganz logisch, dass der Dodo ein Flugzeug benutzt, immerhin ist ja bekannt, dass er leider nicht ohne Hilfsmittel fliegen kann."
"Aber er ist ausgestorben!", beharrt Flurina.
"Und wer sass denn da eben im Flugzeug," will nun der Fischer wissen, "war das vielleicht eine verkleidete Taube?"
"Was weiss ich", ereifert sie sich. "Es kann einfach nicht sein!"
Der Fischer seufzt und lehnt sich zurück. "Weisst du, es gibt eine ganz einfache Methode, herauszufinden was sein kann und was nicht, was real ist und was nicht.“
"Und was ist das für eine Methode?"
"Sei dir einfach bewusst: Alles, was geschieht, geschieht. Und das Meiste geschieht irgendwo, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit oder in einem anderen Universum. So kannst du dich also darauf verlassen, dass alles immer real ist, irgendwie, irgendwann und ganz sicher irgendwo."

10. Eisblumen

"Das ist die blödeste philosophische Theorie, die ich jemals gehört habe!", behauptet Flurina schon beinahe entrüstet, aber dennoch mit einem kleinen Lachen in ihrer Stimme.
Der Fischer sieht sie lange schweigend an und sagt dann: "Erzähl mir was von Eisblumen."
"Wie jetzt, was soll ich dir von Eisblumen erzählen?", möchte Flurina etwas verwirrt wissen.
"Du weisst eine sehr schöne Geschichte über Eisblumen und ich bitte dich, sie mir zu erzählen. Das geht jetzt vielleicht auch ohne Fisch, oder?"
Und plötzlich erinnert sie sich an diese Geschichte. Aber irgendwie ist das alles zu absurd, um es zu erzählen. Und sie hat es in ziemlich tiefen Schichten ihres Bewusstseins vergraben. Weshalb eigentlich?
Weil es wie ein Märchen war? Weil sowieso niemand ihr Glauben geschenkt hätte, wenn sie es erzählt hätte?
Sie waren Kinder gewesen und in einem Alter, in dem man denkt, man sei furchtbar lustig und intelligent, wenn man am Kiosk nach Dubidumm-Bonbons fragt. Die Art Scherz halt, der seit Generationen, manchmal leicht variiert, die Kinder immer wieder von neuem in Begeisterung versetzt und den die meisten Erwachsenen gutmütig hinnehmen, weil sie als Kinder auch einmal auf dem gleichen Trip gewesen sind.
Flurina und ihre Freundin aber begnügen sich nicht mit dem - buchstäblich ausgelutschten - Bonbonscherz. Sie gehen in Blumenläden und fragen nach Eisblumen.
Und sie finden es köstlich, die Gesichter der Blumenverkäufer zu sehen und sie erklären zu hören, dass Eisblumen ja eigentlich in dem Sinne gar keine Blumen seien, oder noch köstlicher ist es, wenn jemand im Laden steht, der nicht so richtig Bescheid weiss, und beim Chef nachfragen muss, ob man Eisblumen bestellen könne.
Eines Tages macht ein neuer Blumenladen in Flurinas Strasse auf und sie freut sich, ihren Scherz wiedermal anbringen zu können.
Als sie den Laden betritt und nach Eisblumen fragt, erlebt sie eine grosse Überraschung.
Der alte, kleine Mann, der den Laden betreibt, lächelt sie an und sagt: "Aber natürlich haben wir Eisblumen. Wir sind berühmt dafür. Komm mit, ich zeige sie dir."
Und damit öffnet er die Tür zum hinteren Raum des Ladens und führt Flurina zu einer grossen Tiefkühltruhe. Als er sie öffnet, sieht Flurina, dass sie über und über gefüllt ist mit den allerschönsten, zartesten Eisblumen.
"Such dir die Schönste aus! Weil du die Erste bist, die danach gefragt hat, schenke ich sie dir.", sagt der Blumenverkäufer mit einem Lächeln.
Flurina beugt sich tief über die Truhe und bewundert die zarten Gebilde. Es ist nicht einfach, sich für eine davon zu entscheiden, sie sind alle wunderschön.
Schliesslich deutet sie auf ein besonders langstieliges Gebilde, das entfernt an eine Margerite erinnert, nur dass die einzelnen Blütenblätter wie aneinander gereihte Riesenschneekristalle aussehen und die Blütenmitte einer in Facetten geschliffenen, gefrorenen Träne gleicht, auf der das Licht reflektiert wie auf einem Diamanten.
"Eine gute Wahl, die du da getroffen hast," meint der alte Mann anerkennend. "Ich sehe schon, du hast den Blick dafür."
Er greift behutsam nach der Blume, trägt sie in den Vorderraum und wickelt sie sorgfältig in weisses Seidenpapier. Dann legt er das Päckchen in den Korb, den Flurina dabei hat und verabschiedet sich mit einem Händedruck von ihr.