So ein Theater! (1. Akt)


„Mach doch nicht so ein Theater!“, bekam ich als Kind immer dann zu hören, wenn meine Gefühlsausbrüche den Erwachsenen in meiner Umgebung irgendwie unangemessen, übertrieben oder einfach nur lästig schienen.


Dabei standen die Erwachsenen dem Theater grundsätzlich nicht etwa feindlich gegenüber, wenn es auf einer Bühne stattfand und Eintritt kostete, wenn sie es als Zuschauer im Parkett verfolgen konnten und nicht mitspielen mussten. In diesem Rahmen empfanden sie es als Kunst oder zumindest als Unterhaltung und schätzten es. Wurden sie jedoch im Alltag mit einem Kind konfrontiert, das seine Wut, seinen Ärger oder seinen Trotz theatralisch inszenierte, bezeichneten sie es als „sich wichtig machen“ und das war unbeliebt.

 

Das gleiche galt für Geschichten, die nicht klar als solche deklariert wurden und die sie dann „Lüge“ nannten.

 

Irgendwie finde ich das ein interessantes Phänomen, dass wir uns mit im Grunde der gleichen Sache einerseits unterhalten lassen und andererseits ärgern können, je nach dem, in welchem Kontext sie uns begegnet. Der Grund dafür dürfte in unserer Empfindlichkeit dessen gegenüber liegen, was wir als Realität oder Wahrheit definieren.


Woher kommt aber diese Empfindlichkeit?

 

Nun, dazu gibt es eine, wie ich finde recht hübsche Theorie:

 

Stellen wir uns eine Gruppe von Urmenschen vor, vielleicht irgendwo in der afrikanischen Savanne, die sich gerade zum Essen niedergelassen hat. Bert wird wiedermal dazu verdonnert, auf einem Baum zu sitzen und nach Gefahren Ausschau zu halten. Bert ärgert sich darüber, denn er musste schon vorgestern diesen Posten übernehmen und er weiss, dass die anderen ihm zwar etwas übrig lassen werden, aber die besten Brocken dann sicher schon wieder fort sein werden.

 

Also versucht Bert einen Trick. Er stösst einen Warnschrei aus, obwohl nirgendwo auch nur die geringste Spur eines Feindes zu sehen ist, die Gruppe macht sich auf und davon und Bert steigt in aller Ruhe von seinem Baum, schnappt sich den besten Brocken und verspeist ihn in aller Ruhe.

 

Natürlich wird sich die Gruppe darüber nicht freuen, vor allem weil Berts Trick bald von anderen nachgeahmt wird. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ aber das ist auch keine Lösung, denn es kann ja sein, dass auch ein bekannter Lügner vor einer tatsächlichen Gefahr warnt, ihn also grundsätzlich nicht mehr ernst zu nehmen kann gefährlich werden.

 

Man muss also lernen zu erkennen, wann er lügt und wann er die Wahrheit sagt und das geht nur, indem man ihn gut beobachtet, denn immer wenn er lügt, tönt zB. seine Stimme etwas schriller.

 

Der Lügner seinerseits versucht, seine Stimme zu kontrollieren, damit er sich nicht verrät.

 

Dadurch könnte es zu einer Art Wettrüsten gekommen sein zwischen immer raffinierteren Methoden der Lüge und dem Erkennen derselben.

 

Als Nebenprodukt dieses Wettrüstens dürften Eigenschaften wie Phantasie und Einfühlungsvermögen entstanden sein.

 

Ich weiss nicht, ob an dieser Theorie wirklich was dran ist. Für mich hat sie etwas Überzeugendes, aber vielleicht ist sie auch nur eine gute Geschichte.

 

Gut ist sie, weil sie einerseits unsere Empfindlichkeit Unwahrheiten gegenüber erklärt, andererseits aber auch einen Anhaltspunkt dafür liefert, weshalb wir es geniessen, uns in einem klaren Rahmen vom Zauber des Theaters verführen zu lassen.

 

 

So ein Theater! (2. Akt)


Oben habe ich den Zauber des Theaters erwähnt und einen möglichen Grund, weshalb wir so empfänglich dafür sind. Dieser Grund heisst Einfühlungsvermögen und Phantasie.


Hätten wir keine Phantasie, so wären die zusammengezimmerten Bretter aus welchen die Bühne besteht bloss ein Podest, auf welchem ein paar Leute sich komisch benehmen und die Pappkulisse dahinter nur ein mehr oder weniger gut gemaltes zweidimensionales Bild.


Wobei es natürlich grosse Unterschiede gibt, was die Gestaltung dieser Bühnenräume betrifft.

 

Da gibt es Aufführungen, bei denen raffinierte und künstlerisch hochstehende Elemente gebaut werden, um den Raum um die Akteure herum selber zum Akteur werden zu lassen. Oder es gibt die fahrende Gauklertruppe, die überhaupt kein Bühnenbild zu Verfügung hat. Vor jeder Szene kommt dann einer der Schauspieler alleine auf die Bühne und kündigt an, wo die nächste Szene spielt.


Beides funktioniert, denn unsere Phantasie macht die Bühne zu etwas anderem, legt ein anderes Bild darüber und ergänzt das Fehlende oder nur Angedeutete zu einem Raum, der alles enthalten kann, was vorstellbar ist.


Einfühlungsvermögen brauchen wir, um in die Geschichte, welche uns die Darsteller präsentieren, einzutauchen. Wir erleben das Geschehen auf der Bühne so, als seien wir selber ein Teil davon. Mit allen damit verbundenen Emotionen und obwohl wir uns die ganze Zeit über durchaus bewusst sind, dass wir gemütlich im Zuschauerraum sitzen.


Die Hirnforschung hat in jüngster Zeit nun auch eine Erklärung gefunden, weshalb das so ist.

Es hängt offenbar mit den so genannten Spiegelneuronen in unserem Gehirn zusammen.

 

Vereinfacht gesagt funktioniert das so, dass in unserem Gehirn die gleichen Areale aktiviert werden, wenn wir eine Handlung nur beobachten, die jemand anderer ausführt, wie wenn wir selbst diese Handlung ausführen würden. Diese Dinge sind zwar noch zu wenig gründlich erforscht, aber dennoch scheinen sie gut zu erklären, weshalb es uns nicht einfach kalt lässt, wenn uns die Schauspieler etwas vormachen. Vormachen im wörtlichen Sinn, denn es ist ja klar, dass sie die Emotionen, die sie zum Ausdruck bringen nicht wirklich erleben.

 

Man könnte es vielleicht auch so sagen: Im Theater ist alles künstlich, ausser dem inneren Erleben der Zuschauer.


Eine kleine Einschränkung muss ich allerdings noch hinzufügen. Diese Spiegelneuronengeschichte funktioniert offenbar nur, wenn wir etwas beobachten, das wir in irgendeiner Weise schon einmal selber erfahren haben. Entfernt sich das Geschehen zu weit von diesem Erfahrungsbereich, dann gelingt es uns nicht mehr, uns damit zu identifizieren, jedenfalls gefühlsmässig und wir bleiben ziemlich ratlos davor sitzen. Das ist meiner Ansicht nach das Problem bei gewissen zeitgenössischen Theateraufführungen, die nach neuen Ausdrucksformen suchen. Wenn fünf Nackte auf der Bühne um eine Badewanne voller Schlamm, mit dem sie sich bewerfen, herumrennen, während sie unentwegt unverständliche Sätze brüllen, dann mag das zwar eine intellektuell erfassbare sozialkritische Bedeutung haben, die einzige Emotion, die jedoch dadurch bei den meisten Zuschauern ausgelöst wird ist Ärger darüber, dass man für diesen Mist so viel Eintritt bezahlt hat.


Das heisst nicht, dass ich finde, Theater darf nur mehr oder weniger seichte Unterhaltung sein.

 

Seine Kraft und seinen Zauber kann es aber nur dann entfalten, wenn das Publikum zumindest zeitweilig vergessen kann, dass es im Zuschauerraum sitzt.

 


So ein Theater! (3. Akt)

 

Wahrscheinlich ist Theater eine der ältesten Künste der Menschen überhaupt. Woher sein besonderer Reiz kommen mag, habe ich schon versucht zu skizzieren, doch nun möchte ich euch mitnehmen zu einem Ausflug in verschiedene Epochen der (Theater-)Geschichte. Besuchen wir also zusammen einige Aufführungen und schauen nach, wie sich das Theater von der Urzeit bis zur Gegenwart entwickelt hat.

 

Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn wir dabei immer wieder grosse Sprünge durch die Zeit machen und auch nicht zu sehr ins Detail gehen – die schiere Quantität an Geschichte erlauben nichts anderes.

 

1. Szene: Ein Grüppchen Leute sitzt nach einer erfolgreichen und dramatischen Jagd ums Feuer, als einer der Jäger plötzlich aufspringt und vorführt, wie er sich an die Herde angeschlichen hat, den Speer geworfen und schliesslich das verwundete Tier verfolgt und niedergeworfen hat.

 

Ein anderer aus der Gruppe streift sich ein Tierfell über und spielt die Beute, dann ist die Wirkung stärker und die Bewunderung für die tapferen Jäger noch grösser.

 

Manchmal spielen die Jäger solche Szenen auch vor der Jagd, um damit den Erfolg zu beschwören. Vielleicht glauben sie daran, dass sie die Wirklichkeit beeinflussen können, indem sie sie zum Voraus nach ihren Wünschen gestalten und darstellen? Oft sind diese Darstellungen auch sehr stark ritualisiert, eine Art Tanz, der Jagdglück bringen soll und die Jäger in die richtige Stimmung versetzt.

 

2. Szene: Ein farbenprächtiger Festumzug im alten Ägypten. Auf dem Platz vor dem Tempel tanzen verschiedene Darsteller, die Tiermasken und Kostüme tragen. Die Priester haben Geschichten von den Göttern erzählt, die die Welt erschaffen haben und die Geschicke lenken. Und durch das Spiel der Masken werden sie jetzt hier am Boden real, gewinnen Gestalt und Wirklichkeit.

 

3. Szene: Im antiken Griechenland sitzen wir im Zuschauerraum, der zum ersten mal klar vom Bühnenraum getrennt ist. Die Schauspieler suchen nicht mehr wie in der Szene zuvor die Verbindung zur Götterwelt, sondern zu uns, dem passiven Publikum.

 

Und noch ein grosser Unterschied besteht. Es wird viel gesprochen auf der Bühne. Allerdings nicht die normale Alltagssprache, die Texte werden in Versform rezitiert.

 

Es gibt jetzt auch professionelle Autoren, die Geschichten über Helden schreiben, welche vom Schicksal gebeutelt schliesslich scheitern. Wir empfinden Mitleid und Furcht mit dem Helden und doch fühlen wir uns danach irgendwie besser. Dies meint zumindest Aristoteles und nennt es Katharsis.

 

Wenn uns heute aber gerade nicht so nach Tragödie zumute ist, können wir uns auch eine Komödie anschauen gehen. Da werden immer so schön die Mächtigen verspottet und menschliche Schwächen aufgezeigt, über die wir lachen können.

 

4. Szene: Jetzt wird’s wieder strenger und religiöser, denn wir sind bereits im Mittelalter angekommen. Die Helden sind nun Heilige und Propheten, deren Leben und Leiden nachgespielt wird und die Themen sind der ewige Kampf zwischen Himmel und Hölle. Bespielt werden die Plätze vor den Kirchen, oder es gibt grossartig inszenierte Festumzüge, bei denen die Passion Christi nachgestellt wird.

 

Ist uns mehr nach weltlichen Inhalten, müssen wir noch eine Weile warten bis gegen Ende des Mittelalters dann Fasnachtsspiele aufgeführt werden. Da können wir uns dann wieder über (sehr derben) Spott gegen Mächtige und Kirche freuen.

 

5. Szene: Wenn wir in den Genuss einer Theateraufführung der Renaissance kommen wollen und nicht zum Adel gehören, dann sollten wir uns am besten nach London begeben. In Italien könnten wir zwar sicher einer fahrenden Truppe der Commedia dell'Arte begegnen und uns von ihrem meist improvisierten Spiel mit und ohne Masken bezaubern lassen, aber in England blüht gerade das Elisabethanische Theater und das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen.

 

Im Zuschauerraum finden sich alle sozialen Schichten, die Eintrittspreise für einen Stehplatz sind billig, so dass auch einfache Handwerker und Händler ihn sich leisten können. Aber auch Gelehrte und Adlige zählen zum Publikum und auf der Bühne stehen echte Profis.

 

Das Repertoire ist gross, ständig werden neue Stücke geschrieben und zur Aufführung gebracht, oft werden auch klassische Stoffe aus der wiederentdeckten Antike aufgenommen und umgearbeitet.

 

Nun steht der Mensch wieder im Zentrum, mit seinen Irrungen und Wirrungen und seiner Freiheit sein Schicksal zu gestalten, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben mögen.

 

Es wird viel und schnell gesprochen, die Handlung ist spannend und mitreissend und das Publikum nimmt lautstarken Anteil am Geschehen.

 

Ist das nicht Shakespeare, der dort auf der Bühne steht? Ich meine den Kerl, der Hamlets Geist spielt? Nun ja, zumindest das Stück ist von ihm.

 

Doch nun, nach ein paar Stunden Globe-Theater London und ein paar tausend Jahren Zeitreise brauche ich eine Pause, bevor wir weiter zum Theater des Barocks gehen und schliesslich dann irgendwann auch wieder in der Gegenwart landen.


Lassen wir also den Bühnenarbeitern Zeit für einen kurzen Umbau, holen uns im Foyer etwas zu trinken und treffen uns dann später wieder zum nächsten Akt.

 


So ein Theater! (4. Akt)

 

Kommen wir nun zum Theater des Barocks.

 

Die Umbaupause war wohl nötig, wenn wir jetzt sehen, was sich alles verändert hat, seit wir das doch eher schlicht gehaltene Globe-Theater Shakespeares verlassen haben.

 

Der Bühnenraum ist nun extrem aufwändig gestaltet, die hintereinander gestaffelten Kulissenbauten vermitteln Tiefe und die Illusion von Wirklichkeit war noch nie so perfekt.

 

Überhaupt scheint kein Zeitalter der dramatischen Kunst so sehr zu entsprechen wie das barocke.

 

Denken wir bloss an die theatral inszenierte prunkvolle Machtentfaltung der absolutistischen Höfe.

 

Wenn zuvor die Bühne den Menschen dargestellt hat und sein verwickeltes Schicksal, so begreift der Mensch nun die Welt selber als grosse Bühne, auf der er seine Rolle spielt. Er wird zum Darsteller seines eigenen Lebens, Sein und Schein werden munter vermischt.

 

Die Menschen sind theaterverrückt in dieser Epoche der Geschichte, entsprechend breit wird auch das Angebot an Inszenierungen und Stoffen. Fahrende Schauspieltruppen mit einem Repertoire von bis zu achzig Stücken trifft man ebenso häufig an wie grosse Häuser mit einem festen Ensemble, grosse Schauspieler werden zu gefeierten Stars und der Berufsstand des Dramatikers erlebt eine grosse Blüte, da es einen schier unersättlichen Bedarf an neuen Stücken gibt.

 

Und dann?

 

Dann kommt das Zeitalter der Aufklärung, in dem die Vernunft in den Vordergrund gerückt wird und das Bürgertum sich mehr und mehr von den absolutistischen Machtansprüchen der Herrscher emanzipiert.

 

Theater übernimmt nun wieder eine andere Funktion, es geht nicht mehr um mehr oder weniger eitle Prachtentfaltung sondern jetzt steht wieder der erzieherische Wert der Bühne im Vordergrund.

 

Schiller formuliert dazu in seinem Vortrag: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“

 

folgende drei Aussagen:

 

-Eine Schaubühne ist eine moralische Anstalt und eine Schule praktischer Weisheit.

-Eine Schaubühne ist eine gesellschaftspolitische Anstalt und Instrument der Aufklärung.

-Eine Schaubühne ist eine ästhetische Anstalt.


Das tönt so trocken, da gehen wir doch lieber gleich weiter zur Romantik!

 

Aber die Leute der Romantik sind mehr an Lyrik und Romanen interessiert, das Theater fristet nun eher ein Dasein im Hintergrund, obwohl es natürlich durchaus geeignet ist, das grosse Bedürfnis nach Gefühlen jener Zeit zu bedienen.


Gegen Ende des 19. Jahrhundert gehen die Besucherzahlen der grossen Theaterhäuser massiv zurück, viele Leute haben einfach nicht mehr genug Geld für dieses Vergnügen. Deshalb müssen einige Theater schliessen, es entsteht an ihrer Stelle eine Kleintheater und Kabarett-Szene.


Und dann gibt’s ja dann seit anfangs des 20. Jahrhundert auch noch die bewegten Bilder der Lichtspieltheater, das Kino wird immer beliebter und feiert grosse Erfolge mit einer ganz neuen Ästethik, welche dem Theater mit seinen Mitteln versagt bleibt.


Und damit sind wir nun endlich in der Gegenwart gelandet und wenn wir uns jetzt umschauen, so sehen wir, dass das Theater noch immer existiert.

 

Es gibt noch immer Komödien und Tragödien, es gibt noch immer Stücke, welche erzieherisch auf das Publikum wirken sollen und solche, die bloss mehr oder weniger intelligente Unterhaltung bieten möchten. Es gibt auch noch die ganz alten Stücke, manchmal in einem neuen Gewand und manchmal scheint man vor lauter neuen Gewändern das Stück, die Geschichte nicht mehr zu sehen.

 

Es gibt Inszenierungen, welche den Theaterkritikern gefallen und solche, die dem Publikum gefallen. Diejenigen, welche dem Publikum gefallen werden meistens in Häusern gespielt, die keine Subventionen erhalten. ;) Aber das wäre jetzt wieder ein anderes Thema.


Schliessen wir also nun unseren kleinen Ausflug in die Geschichte des Theaters und machen erneut eine kleine Pause, ehe wir zum fünften und letzten Akt kommen, in dem ich weder über Kritiker noch über Subventionen schreiben werde sondern – nun, lasst euch überraschen!

 


So ein Theater! (5. Akt)

 

Nachdem ich in den ersten vier Akten das Theater vor allem aus der Perspektive des Publikums beleuchtet habe, möchte ich nun im letzten Teil darüber nachdenken, inwiefern wir alle nicht nur Zuschauer, sondern auch Autoren und Darsteller jenes Stückes sind, das wir Leben nennen.

 

In unserem Sprachgebrauch gibt es viele Theater-Metaphern, Begriffe wie Rolle, Person, Habitus sind alle aus der Sprache des Theaters übernommen.

 

Wir betreten irgendwann die Bühne des Lebens und übernehmen sofort die uns zugewiesene Rolle als Sohn, Tochter, Geschwister, Enkel in einem Familienensemble. Die Mitspieler dieses Stückes sind gleichzeitig unser erstes Publikum, an ihren Reaktionen lernen wir unsere Rolle zu definieren und anzupassen. Wir lernen auch, indem wir die anderen Darsteller genau beobachten und versuchen ihr Spiel nachzuahmen.

 

Wenn wir noch sehr jung sind, ist unser Spielraum relativ beschränkt und wird vor allem von aussen definiert, werden wir älter, bekommen wir zunehmende Möglichkeiten die verschiedensten Rollen auszuprobieren um irgendwann vielleicht einen Kompromiss zu finden zwischen den Ansprüchen unseres Publikums und unseren eigenen Vorstellungen davon, wie und wer wir sein wollen.

 

Dabei beschränken wir uns in der Regel natürlich nicht nur auf eine einzige Rolle, in der Familie übernehmen wir einen anderen Part als im Freundeskreis, in der Schule, im beruflichen Umfeld oder wenn wir einfach bloss irgendwo unterwegs sind, wo uns niemand kennt.

 

Was bedeutet aber eigentlich Rolle?

 

Eine Rolle im Theater ist ja immer die mehr oder weniger klischierte Darstellung einiger weniger Persönlichkeitsmerkmale. Nehmen wir zB. Arlecchino aus der Commedia dell'Arte. Arlecchino ist die Figur, die sich auf der Bühne alles herausnehmen darf. Typisch für ihn ist seine naive Fröhlichkeit und seine Verfressenheit. Mit seiner ironischen Art ist er die Stimme des gemeinen Volkes.

 

Die Figur des Arlecchinos funktioniert, weil sie eben gerade nicht differenziert dargestellt ist. Kein Mensch interessiert es, dass der Kerl vielleicht auch mal traurig ist oder schlechter Laune, oder dass er manchmal von Selbstzweifeln geplagt wird oder nachts zwischen zwei und drei Uhr philosophische Bücher liest oder Gedichte schreibt. Das alles will man gar nicht wissen.

 

Wie ist das aber mit den Rollen, die wir selber übernehmen? Sind die differenzierter, oder wechseln wir bloss so schnell und mühelos von einer in die nächste Rolle, dass wir vielschichtiger wirken vor den anderen und nicht zuletzt in unserer eigenen Wahrnehmung?

 

Wir mögen es ja in den seltensten Fällen, von anderen auf eine Rolle festgelegt zu werden, wir fühlen uns dann nicht richtig wahrgenommen, unsere Vielschichtigkeit ist uns wichtig und besonders bei Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen wünschen wir uns, dass wir in unserer ganzen Komplexität wahrgenommen werden. Denn diese Komplexität empfinden wir als unser wahres Selbst.

 

Oder gibt es da noch etwas anderes? Wenn die verschiedenen Rollen unsere vielschichtige Persönlichkeit bedeuten, gibt es dann unter diesen vielen Schichten auch noch etwas anderes, das von all diesen zugeschriebenen oder selbst definierten Rollen unberührt bleibt? Gibt es da einen Kern, eine innerste Wahrheit, etwas das bleibt, wenn alle Masken fallen und alle Schichten abgelöst werden?


Sind wir wie diese russischen Matrjoschka-Puppen, die ganz innen ein kleines massives Püppchen haben, oder sind wir eher wie Zwiebeln, von denen nichts bleibt, wenn alle Schichten abgelöst sind?


Nun, meine Intuition sagt, da müsse es noch etwas mehr geben. Das Echte, Wahre, Ungespielte.

 

Allerdings merke ich, dass ich in grösste Verlegenheit komme, dies auch schon nur vor mir selber zu beschreiben.

 

Und so bleibt der Verdacht, es könnte tatsächlich sein, dass alles bloss ein grosses Theater ist.