Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

Im Keller liegen zwölf Blöcke wunderbaren, weissen Alabasters. Zugesägt auf 40 mal 15 mal 15 Centimeter, mit einem Gewicht von über zwanzig Kilo pro Stück, haben sie per Eisenbahn, Camion und Lieferwagen die Reise von Spanien nach Basel unternommen. Ich bin besessen von Steinen. Sie helfen mir dabei, eine Sprache zu finden.
Die Worte waren mir verloren gegangen in den letzten Jahren. Ich glaubte ihnen nicht mehr, weder den Worten, die ich hörte, noch denen, die ich selber sprach und schon gar nicht dem alten Plapperaffen, der in meinem Kopf zu allem seinen Kommentar abliefern wollte. Aber den Steinen konnte ich glauben, denn ihre Sprache war so ursprünglich und klar. Die Steine waren so fest und rein in ihrer Substanz. Ich konnte sie berühren, ihr Gewicht spüren und ihre Formen hatten nichts Gekünsteltes, Unwahres an sich, auch wenn ich selber ihnen diese Form gab.
Die Steine offenbaren mir ihre Gestalt. Ich bin nicht ihre Schöpferin, sondern ihre Dienerin, die versucht, die innere Essenz herauszuschälen, Schicht um Schicht abzutragen und zur Seele des Steines zu gelangen. Zumindest zu der Seele, die er mit meiner Hilfe offenbaren will.
So lange bin ich stumm gewesen. Nein, nicht wirklich stumm, bloss wortlos. Und jetzt merke ich, wie die Worte langsam und schüchtern zurückkommen. Ich merke, wie sie tief im Keller meines Bewusstseins liegen, so wie die zwölf Alabasterblöcke bereit liegen. Sie sind da, um in Sätze geformt zu werden, so wie der Stein bereit liegt, seine verborgene Figur zu offenbaren.
Siebenundachzig Stufen schleppe ich den ersten Steinblock vom Keller hoch in mein Atelier im vierten Stock. Schweisstreibende Stufen, auch wenn ich mich schon längst daran gewöhnt habe, alles die Treppe hochzutragen und ich keuche unter dem Gewicht dieses Steines.
Oben stelle ich ihn auf meinen Arbeitstisch und muss erst mal wieder zu Atem kommen. Die Morgensonne bemüht sich, durchs staubige Fenster zu strahlen und lässt den Block an den Kanten fast durchsichtig scheinen. Er wirkt jetzt edel und abweisend, unberührbar eigentlich und ich bin plötzlich unsicher, ob ich mich mit diesem Projekt nicht völlig überfordere. Ist es nicht unmöglich, ein himmlisches Wesen in Stein zu meisseln? Aber ich sehe sie so lebendig vor mir stehen, diese steinernen Engel, sehe sie schon seit Wochen in meinem Kopf und dieses Bild ist von solcher Kraft und Dringlichkeit, dass es den Gedanken an Gelingen oder Scheitern sofort wieder in den Hintergrund schiebt und für unwichtig erklärt.
So nehme ich meine grösste Säge und beginne mit dem ersten Schnitt, versuche die erste unsichtbare Linie zu finden, die das Wesen vom Unwesentlichen trennt.
Es geht langsam voran, milimeterweise frisst sich das Metall durch den Stein und weisser Staub rieselt mit jedem Vor und Zurück aus dem Spalt auf die Tischplatte, wie Sand in einem Stundenglas.
Und dann beginnt der Stein zu summen, erst ganz leise und dünn, dann immer deutlicher und lauter, bis der Gesang des vibrierenden und schwingenden Blockes mit einer ganzen Skala von Obertönen den Raum ausfüllt. Dann ein Knall und das abgesägte Stück fällt auf den Boden, die Musik bricht ab und ich höre nur noch meinen eigenen Atem.

Wo beginnen? Wo den ersten Schnitt setzen? Ich will eine Liebesgeschichte erzählen, aber wo fängt sie an? Ist es wichtig, die Vorgeschichte zu kennen? Muss das Material beschrieben werden, aus dem die Figuren dieser Geschichte gebaut sind? Aber ich kenne nur die Vorgeschichte der einen wirklich aus erster Hand. Also lieber nicht. Lieber gleich anfangen.
Eine junge Frau sitzt in einem Strassencafé in Basel. Es ist Sommer, endlich Sommer geworden und das ist Anlass genug, einfach nur dazusitzen, dem geschäftigen Treiben der Leute zuzuschauen, Eistee zu trinken und den Tag zu verbummeln.
Gegenüber steht ein ein Strassenmusikant und bearbeitet mit mehr Enthusiasmus als Talent seine Gitarre und singt dazu irgendwas, das ein wenig nach Tom Waits klingt. Ein anderer Typ geht mit einem Hut von Tisch zu Tisch und sammelt das Honorar für den Künstler, argwöhnisch beäugt vom mürrischen Kellner, dem dies eindeutig missfällt, der aber zu träge ist, irgendetwas dagegen zu sagen.
Als er an ihren Tisch kommt, schenkt sie ihm ein Zweifrankenstück und ein strahlendes Lächeln. Er ist ein schöner Mann und sein Grinsen, das er ihr zurückschickt lässt sie noch mehr strahlen. Er fasst das als Einladung auf und setzt sich zu ihr an den Tisch, klaubt die Münzen aus seinem Hut, legt ihn neben sich auf einen freien Stuhl und beginnt auf Englisch eine Geschichte zu erzählen. Er und sein Kumpel dort mit der Gitarre seien holländische Strassenmusikanten und ihm sei die Gitarre geklaut worden und sie dürfe ihn ruhig zu einem Bier einladen.
Aus einem Bier werden zwei und er erzählt weiter und sie taucht ganz tief ein in seine Geschichten und wenn es nicht so ein dummes Klischee wäre, dann würde ich jetzt sagen, sie taucht in seine blauen Augen und verliert sich darin. Aber das lasse ich lieber bleiben. Er ist ein schöner Mann, der gut erzählen kann, der Humor hat und schon alles mögliche vom Leben weiss, sie ist eine eher unscheinbare junge Frau und fühlt sich von soviel Aufmerksamkeit geschmeichelt, wenn auch etwas eingeschüchtert. Er will sich mit ihr verabreden für den gleichen Abend. Sie sagt zu, weil es leichter ist, als nein zu sagen und zu erklären, weshalb. Sie hat in der Schule Latein und Altgriechisch und Französisch gelernt, ihre Englischkenntnisse sind mager und sie hat sie vor allem durch englische Songtexte und englische Filme mit deutschen Untertiteln erworben. Sie kann viel verstehen und wenig sagen. Also sagt sie ja und weiss, sie wird nicht hingehen. Sie weiss, sie wird nicht hingehen und sich nach ihm sehnen.

Ich bearbeite den Block weiter mit der Säge. Er singt nicht bei jedem Schnitt, bloss, wenn dieser besonders tief ist. Nach und nach wird der Engel in seiner Haltung sichtbar. Und plötzlich verschwindet jede Unsicherheit. Der Stein hat begonnen, mit mir zu sprechen. Jetzt sagt er ganz klar, was er will. Die erste Hürde ist genommen, der Rest ist bloss noch physische Kraft und Ausdauer.
Die grossen, abgesägten Stücke kommen in eine Kiste, später kann ich vielleicht kleinere Figuren daraus machen.
Jetzt kommt der nächste Schritt. Mit Hammer und Meissel lege ich grob die Vertiefungen an. Dabei muss ich sehr vorsichtig sein, denn ein falscher Schlag und der Stein zerspringt. Am besten geht es, wenn ich den Block auf den Schoss nehme. Ich werde zwar blaue Flecken davon bekommen, aber das ist mir egal. Ich muss den Stein an meinem Körper spüren, er muss fast zu einem Teil von mir selbst werden. Ich muss jeden Schlag mit den Händen führen und ihn gleichzeitig mit den Beinen abfedern. Auch meine Ohren sind jetzt wichtig, denn man hört die heiklen Stellen, bevor man sie sieht.
Und immer wieder den Block hinstellen, ein paar Schritte zurücktreten, schauen, vielleicht mit dem dicken Filzstift eine Linie anzeichnen, wieder hinsetzen, den Block auf die Oberschenkel legen, Hammer und Meissel nehmen, schlagen, mit den Beinen abfedern, die Vibration des Steines im Bauch spüren, im Staub versinken. Er dringt mir in die Nase, knirscht zwischen meinen Zähnen, färbt meine Haut und meine Haare weiss. Nach drei Stunden sehe ich aus wie eine alte Frau.

Natürlich treffen sie sich wieder. Eine Woche später, im Atlantis, einem Lokal in dem jeden Abend eine andere Band spielt und in dem sie oft ist, weil sie gerne Musik hört und weil man dort immer jemanden trifft, den man kennt. Dass sie ihn dort treffen würde, hat sie eigentlich nicht erwartet, weil sie gedacht hat, dass er längst weitergezogen sei mit seinem Kumpel. Aber er ist da und steuert zielstrebig auf sie zu. Sie will ihm schon erklären, weshalb sie vor einer Woche nicht zu ihrem Rendez-vous gekommen ist, aber er tut das mit einer Handbewegung ab und dann fängt er plötzlich an, in reinstem Schweizerdeutsch zu reden. Das sei doch wesentlich einfacher so und auch irgendwie ungezwungener, jetzt da sie auf dem Weg seien, gute Freunde zu werden. Die Geschichte vom holländischen Strassenmusiker sei eben so eine Geschichte gewesen, die er erzähle, wenn er mit seinem Kumpel unterwegs sei, der im übrigen wirklich aus Holland stamme..
Er hat sie also belogen. Er hat ihr eine Geschichte erzählt. Sie hat ihn auch belogen, hat ihn versetzt und weiss noch nicht einmal eine gute Geschichte zur Begründung. Was wiegt schwerer? Und spielt das überhaupt eine Rolle in diesem Moment? Er ist ein Lügner, ein Geschichtenerzähler, ein Wortmagier. Er erschafft eine neue Realität, bunter, schillernder, spannender als die, in der sie sich normalerweise bewegt. Und er ist ein schöner Mann.
Der Abend vergeht in einem Wirbel von Musik, Worten, Blicken, kleinen, beiläufigen Berührungen, Schmetterlingsflügeln, Euphorie, Sehnsucht nach Nähe und bewusster Distanz, um den Moment zu verlängern, die Vorfreude zu steigern, den Rausch zu vertiefen. Sie sind verrückt. Nicht mehr in dieser Realität und nicht mehr zurechnungsfähig. Als das Lokal schliesst, gehen sie zu ihm und kommen während der ganzen restlichen Nacht weder zur Besinnung noch zum Schlaf.

Wenn ich bei der Arbeit am Stein bin, vergeht die Zeit rasch. So rasch, dass ich gar nicht merke, dass ich schon seit drei oder vier Stunden die gleiche Bewegung ausführe.
Ich merke es erst, wenn sich meine Muskeln schmerzhaft zu Wort melden, oder mein Rücken um ein wenig mehr Aufmerksamkeit bittet. Mein Körper bringt mich immer wieder aus der inneren Versunkenheit der Arbeit in die äussere Realität zurück.
Meine körperliche Kraft ist begrenzt. Sie zwingt mich zu Pausen.
Und manchmal geschieht das Wesentliche während der Pausen.

Am nächsten Morgen schwebt sie wie auf Wolken nach Hause. Er hat ihr zwar erklärt, dass er nicht an die Liebe glaube, jedoch an Freundschaft und Zärtlichkeit, aber das ist ihr egal wie sonst was. Was heisst schon Liebe? Was weiss er, was weiss sie schon davon? Und ist es nicht gleichgültig, was sie glauben oder nicht glauben. Ist es nicht viel wichtiger, was sie zusammen entdeckt haben?
Kaum zu Hause, klingelt das Telefon. Er ist dran und macht ihr eine flammende Liebeserklärung, die dermassen übertrieben ist, dass sie lauthals herauslachen muss. Aber er scheint es ernst zu meinen, er, der nicht an die Liebe glaubt. Er will alles noch mal erzählen, was sie zusammen erlebt haben. Er wirbt heftig um sie, er will, dass sie sofort zurück kommt und den Rest ihres Lebens mit ihm zusammen im Bett verbringt.
Sie weiss immer noch nicht, ob das einfach nur ein Spiel ist, oder ob er tatsächlich irgend etwas von dem, was er da von sich gibt, auch so meint. Sie kennt ihn ja eigentlich kaum, auch wenn sie sich noch niemals jemandem so nahe gefühlt hat.
Aber sie merkt, dass sie nun eine Pause braucht, Zeit für sich selber, Zeit, wieder auf den Boden zu kommen, nüchtern zu werden.
Er ist auch furchtbar anstrengend. Er erzählt ihr Dinge, mit denen sie nicht recht umgehen kann. Er sagt grosse, schwere Worte, die in ihrer Absolutheit in Stein gemeisselt zu sein scheinen. Und sie hat noch keine Erfahrung mit Steinen.
Er redet von Einsamkeit und der Suche nach einem Gott, dessen Existenz er für unmöglich hält. Und während er ihr seine Welt erklärt, sehnt sie sich nur nach seiner Haut, seinem Lachen und seiner wilden Zärtlichkeit. Nein, sie braucht unbedingt eine Pause. Bis heute Abend.