Der Engel ist noch nicht viel mehr als ein grober Schemen, ein Klotz mit Vertiefungen. Er hat noch kein Leben, noch keinen Ausdruck. Seine Oberfläche ist mit Kratern wie Pockennarben übersät, die der Meissel hinterlassen hat.
Mit der groben Raspel beginne ich nun die Oberfläche abzutragen.
Ich modelliere den Stein, versuche, ihm klare Linien und Flächen zu geben.
Es muss noch viel Material weggeschliffen werden, bis der Körper der Figur ganz befreit ist.
Ich bemühe mich, möglichst gleichmässig von allen Seiten her zu arbeiten, mich nicht irgendwo in einem Detail zu verlieren.
Es gibt in dieser Phase der Arbeit nichts Gültiges, Fertiges, Festgelegtes. Alles verändert sich laufend, muss zu einem Gleichgewicht finden. Der ganze Prozess verlangsamt sich immer mehr. Jetzt geht es nur noch millimeterweise voran.
Und der Haufen weissen Staubes auf meinem Tisch wird immer grösser.

In den nächsten Tagen verbringen sie viel Zeit miteinander. Er führt sie in eine neue Szene ein, um die sie bisher einen grossen Bogen gemacht hat. Er zeigt ihr all die Orte, an denen er sich so was wie ein Zuhause, sowas wie eine Familie erschaffen hat. Er, der Wurzellose zeigt ihr, die bisher gedacht hat, mit den Füssen einigermassen am Boden zu stehen, einen Mikrokosmos voller Paradiesvögel und Abgestürzter, voller einsamer Trinker, die die Gesellschaft anderer Einsamer suchen, voller Menschen mit Asche unter der Haut. Es ist ein schmuddeliges Zuhause und eine chaotische Familie, dennoch fühlt er sich hier fast wohl. Hier findet er die Bühne für seine grossen und kleinen Auftritte, hier findet er Mitspieler, die er oft hemmungslos abzockt. Hier findet er auch jede Menge Frauen und alle beherrschen das uralte Balzspiel, auf den Lippen das grösste Versprechen und in den Augen die tiefste Hoffnungslosigkeit.
Ihr bleibt diese Welt fremd, auch wenn sie sich bemüht, sie als Teil von ihm zu verstehen und sie klammert sich an ihn und merkt, wie er ihr selber fremd wird.
Sie begreift dieses Spiel nicht, fühlt sich schon nach einem einzigen Bier betrunken, sitzt daneben, lässt ihn reden und spielen und sehnt sich danach, möglichst bald mit ihm alleine zu sein und den Teil, der ihr so fremd ist einfach auszublenden.
Einmal verabreden sie sich am Theaterbrunnen. Sie ist, wie meistens, zu früh, er kommt wiedereinmal zu spät. Nach einer halben Stunde taucht er auf, kommt strahlend über den ganzen Platz gerannt. In der einen Hand schwenkt er eine graue Anzugsjacke, in der anderen eine Hose der gleichen Farbe. Um seinen Hals hängt eine rote Krawatte. Ein äusserst komisches Bild, das er so bietet, obwohl der arme Kerl, mit dem er den halben Nachmittag gezockt hat, und der nun irgendwo im Hemd da steht, bestimmt noch ulkiger aussieht. Und er freut sich wie ein Scheekönig darüber, einen Banker nachmittags um fünf dazu gebracht zu haben, seine Hose zu verspielen.
Er verliert nie. Er hat immer Glück. Oder vielleicht ist er einfach nur clever genug, die Spiele zu spielen, bei denen er weiss, dass er gewinnen wird.
Den Anzug verschenken sie dem ersten Stadtstreicher, dem sie begegnen. Er steht ihm recht gut. Die Krawatte möchte er nicht haben, das sei nicht sein Stil. Also hängen sie sie der Statue des alten Isaak Iselin um.
Sie sind wiedermal in Hochstimmung. Die Welt gehört ihnen allein, denn sie erfinden sie fortwährend neu und genau so, wie sie ihnen gefällt.
Sie spazieren durch die Stadt, erzählen sich Geschichten, machen beim Brunnen auf dem Münsterplatz eine Wasserschlacht und verbringen eine wortlose halbe Stunde auf der Pfalz. Er hat seinen Kopf auf ihren Schoss gelegt und wirkt so jung und weich. Er sehnt sich so nach Geborgenheit und sie sehnt sich danach, ihm möglichst viel davon zu geben.

Meine Hände tun weh. Die Haut ist an den Fingern rauh und aufgerissen. Ich bin müde und habe das Gefühl, niemals mit dieser Arbeit fertig zu werden. Es geht so furchtbar langsam. Weshalb ist der blöde Stein bloss so hart? Weshalb mache ich das überhaupt?
Ich werfe mein Werkzeug hin, bedecke den Stein mit einem Tuch und wische den weissen Staub auf dem Tisch zu einem grossen Haufen zusammen.
Ich fange an, damit zu spielen, wie ein Kind im Sandkasten. Ich wühle meine brennenden Hände hinein und der Staub mag sie tatsächlich etwas zu kühlen. Ich forme damit Berge und Täler, zeichne mit den Fingerspitzen Muster hinein. Ich drücke ihn zusammen, zerreibe ihn wieder, verstecke immer wieder meine Hände unter ihm.
Wenn mich jetzt jemand sehen würde, hielte er mich vielleicht für ein wenig verrückt und vielleicht bin ich das ja auch in diesem Augenblick.
Aber da ist niemand.
Nach einer halben Stunde bin ich mit dem Stein wieder versöhnt. Ich räume den Staub fort, mache den Tisch sauber, nehme mein Werkzeug wieder zur Hand und schleife Millimeter um Millimeter dem Engel entgegen.

Es gibt romantische Szenen, nachts im Park des Bottminger Schlosses, in denen er ihr geklaute Rosen schenkt. Es gibt den Tag, an dem er eine Rolle Stacheldraht um sein Bett verlegt. Er liest gerade "im Westen nichts Neues" und will mehr Authentizität dabei. Es gibt andere Frauen, die er ihr allesamt vorstellt und dabei immer wieder betont, dass er sie am liebsten von allen hätte.
Manchmal fragt sie sich, weshalb sie die anderen einfach akzeptiert, nicht eifersüchtig wird, ihn nie zur Treue bewegen will. Sie spürt wohl, dass es sowieso keinen Sinn hätte, dass sie ihn niemals festhalten kann, wenn er nicht freiwillig bleiben möchte. Und vielleicht möchte sie auch nur die kostbaren Momente, in denen die Welt um sie versinkt und es nur noch sie beide gibt, nicht mit irgendwelchen Szenen zerstören.
Und dann gibt es immer wieder Zeiten der Fremdheit, in denen sie unter ihrer Wortlosigkeit leidet, in denen sie zweifelt, dass irgendetwas von dem, was sie zu sagen versucht bei ihm ankommt. Zeiten, in denen sie ihn schütteln will, wenn er wieder allzu düster über sich und sein Leben spricht, in denen sie ihn in die Sonne hinauszerren möchte, um ihm all das Schöne zu zeigen, das es doch überall gibt und das er so sträflich verachtet. Aber stattdessen lässt sie sich von seiner dunklen Seite anstecken, beginnt die Welt durch seine Augen zu sehen, nur um ihm nahe zu bleiben. Und statt ihm ihre Sicht der Dinge näher zu bringen, bringt sie oft nicht mehr als eine unsichere Umarmung und ein verunglücktes Lächeln zu stande.
Und dann gibt es den Tag, an dem sie erfährt, dass sie schwanger ist.